"Heuchelei": WM-Gastgeber Katar weist Kritik zurück

Laut Doha sind beinahe alle Eintrittskarten der am 20. November startenden WM verkauft. Gerade in kritische europäische Länder seien die meisten Karten verkauft worden. Kritik an Menschenrechtsdefiziten im Land bezeichnete der katarische Außenminister als Angriffe und Heuchelei.

Der katarische Außenminister Mohammed bin Abdulrahman Al-Thani hat die "Heuchelei" verurteilt, mit der das Land wegen angeblicher Menschenrechtsverletzungen im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft kritisiert wird.
Während sich der Golfstaat auf die Ausrichtung der FIFA-Weltmeisterschaft ab dem 20. November vorbereitet, hat es aus unterschiedlichen Richtungen teils sehr kritische Kommentare gegeben.

Die "Angriffe" gingen von einer Minderheit aus, so Al-Thani gegenüber der Tageszeitung Le Monde am Donnerstag. Ausgerechnet an kritische europäische Länder seien die meisten Eintrittskarten verkauft worden.
"Es steckt viel Heuchelei in diesen Angriffen, die alles ignorieren, was wir erreicht haben", sagte Al-Thani, der auch stellvertretender Premierminister ist.

Sie würden von einer sehr kleinen Zahl von Menschen in höchstens zehn Ländern propagiert. Er betonte:

"Die Realität ist, dass sich die Welt auf dieses Fest freut. Über 97 Prozent der Eintrittskarten sind verkauft. Unter den zehn Ländern, die die meisten Karten gekauft haben, finden wir europäische Länder wie Frankreich."

Mehrere französische Städte, darunter Paris, hatten unter Verweis auf die Menschenrechtssituation in dem Land angekündigt, das Turnier nicht auf Großbildschirmen zu übertragen. Gleichzeitig ist Frankreich eine Partnerschaft mit Katar eingegangen, um Sicherheitspersonal für die Weltmeisterschaft zu stellen, was französische Medien mit sehr kritischen Beiträgen quittiert haben. Kritik an Katar und der Ausrichtung der Spiele in dem Golfstaat kommt somit nicht immer am deutlichsten aus den oberen Reihen der Länder, die Al-Thani nun der Heuchelei bezichtigt.

Katar ist vom 20. November bis 18. Dezember Gastgeber der Fußball-Weltmeisterschaft. Das arabische Land wird auch von Menschenrechtsorganisationen immer wieder wegen systematischer Menschenrechtsverstöße und der Ausbeutung von Migranten kritisiert. Doch insbesondere in Deutschland mehrten sich zuletzt versöhnlichere Töne aus der Bundesregierung, die angesichts der Energiekrise zunehmend gute Beziehungen zum Flüssiggaslieferanten Katar sucht. So sagte Bundeskanzler Olaf Scholz während eines Besuchs Ende September:

"Zur Kenntnis nehmen wir, dass es auch Fortschritte gibt in Fragen, um die lange gerungen werden musste, etwa was die Situation von Beschäftigten betrifft. Auch wenn das noch lange nicht den Vorstellungen entspricht, die wir selber haben."

Bundesinnenministerin Nancy Faeser sprach sich zuletzt gegen einen Fernsehboykott der Fußball-Weltmeisterschaft aus. "Ein Fernsehboykott bewirkt überhaupt nichts", sagte Faeser (SPD) und fragte: "Ist die Fußball-Weltmeisterschaft für viele Menschen vor dem Fernseher nicht etwas, was sie auch genießen wollen?" Die auch für den Sport zuständige Innenministerin und der relativ frische DFB-Präsident und früherer SPD-Staatssekretär in Nordrhein-Westfalen Bernd Neuendorf hatten in der vergangenen Woche Katar besucht.

Zuvor war hatte Faeser in einem Fernsehinterview gesagt, dass es angesichts der Menschenrechtssituation "besser wäre, wenn Turniere nicht an solche Staaten vergeben würden", und erklärte, dass die Wahl Katars als Gastgeber der Fußballweltmeisterschaft für die deutsche Regierung "sehr heikel" sei. Daraufhin hagelte es scharfe Reaktionen aus Doha. Der Sprecher des katarischen Außenministeriums, Majed al-Ansari, bezeichnete die Äußerungen Faesers als "inakzeptabel und provokativ für das katarische Volk".

Nach ihrem Besuch im Land kündigte Faeser an, zum ersten deutschen WM-Spiel am 23. November gegen Japan zu reisen. "Der Premierminister hat mir zugesichert, dass alle Menschen bei dieser WM sicher sind", sagte Faeser und bezeichnete diese Garantie als wichtigsten Punkt des Besuchs. Nach ihrer Reise habe sie den Eindruck, dass die maßgeblichen Kräfte im Land den Reformprozess voranbringen wollten.

Nach ihrer Reise erhielt sie jedoch direkt Kritik für die gemäßigten Töne. So meinte Christoph Rudolph aus der Anlaufstelle für sexuelle Vielfalt des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) im Interview der Frankfurter Rundschau:

"Wenn jetzt gesagt wird, dass die WM bedenkenlos für queere Menschen sei, ist das ein fatales Zeichen für die queere Community in Katar. Welches Katar hat denn Nancy Faeser bitte gesehen? Dann kann sie sich auch gleich durch Nordkorea führen lassen."

Gleichgeschlechtliche Handlungen, auch zwischen einwilligenden Erwachsenen und im privaten Bereich, stellen in Katar eine Straftat dar, die mit bis zu sieben Jahren Gefängnis bestraft werden kann. Zur Situation der Arbeiter auf den Stadien-Baustellen sagte Rudolph, dass "das Turnier auf den Gräbern von Tausenden von Menschen" stattfinde: "Dann können wir gleich ein Fußballspiel auf dem nächsten Friedhof organisieren!," legte er polemisch nach.


Am Samstag haben Fußballfans von Hertha BSC und des FC Bayern München mit einer offensichtlich geplanten Aktion gegen die WM in Katar protestiert und zum Boykott des Turniers aufgerufen. "15.000 Tote für 5.760 Minuten Fußball! Schämt euch", stand am Samstag kurz nach Anpfiff der Partie der Fußball-Bundesliga im Olympiastadion auf großen Bannern in den Blocks beider Fanlager. Die Transparente spielten auf die prekäre Situation der Gastarbeiter in dem arabischen Emirat an, die immer wieder kritisiert werden. Während der gesamten Partie hing auf Höhe der Mittellinie an der Gegengeraden ein großes Plakat mit der Aufschrift "Boycott Qatar 2022". Mit zahlreichen Bannern in den Vereinsfarben weiß und blau kritisierten Hertha-Zuschauer eine "Missachtung von Menschenrechten" oder "klimatisierte Stadien statt Klimaschutz".

Norwegens Fußball-Präsidentin und frühere Nationalspielerin Lise Klaveness hatte beim Kongress des Weltverbandes FIFA Ende März in der katarischen Hauptstadt Doha angesichts der Menschenrechtslage in dem Emirat deutliche Kritik am Weltverband und WM-Ausrichter geübt. Aktuell erhofft sie sich Unterstützung aus Deutschland und Großbritannien. Bei der Einrichtung eines Hilfsfonds für die Opfer auf WM-Baustellen in Katar und deren Angehörige wollen die Verbände Norwegens und Deutschlands ihr zufolge aktiv zusammenarbeiten, sagte die 41-jährige im Interview der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Der Arbeitsgruppe gehören neben Norwegen und Deutschland auch England, Belgien, die Niederlande, Schweden und Dänemark an.

Der junge deutsche Fußballspieler Nico Schlotterbeck sagte jüngst im ZDF-Sportstudio: "Dass die WM nicht nach Katar gehört, das wissen wir alle. Dass die WM nicht in den Winter gehört, sondern in den Sommer, dass wissen wir auch." Dario Minden, Sprecher der Fan-Vereinigung "Unsere Kurve", erklärte der dpa, bei Protesten wie einem Aktionstag Ende September in Frankfurt am Main unter dem Motto "Nicht unsere WM!" gehe es darum, "dass Menschen zur Ermöglichung eines WM-Turniers entrechtet und massenweise in den Überarbeitungs-Hitze-Tod getrieben wurden. Es geht um fehlende Pressefreiheit und schlimmste Diskriminierungsformen gegenüber Frauen und der LGBTIQ*-Community". LGBT ist die englische Abkürzung für lesbisch, schwul, bisexuell und Transgender. Oft werden auch die Varianten LGBTQ, LGBTQI oder gar LGBTQIA+ verwendet, wobei jeder Buchstabe für die eigene Geschlechtsidentität oder die sexuelle Orientierung steht. 

Einen aufsehenerregenden Bericht des britischen Guardian Anfang 2021 über 6.500 tote Arbeiter aus fünf asiatischen Ländern auf den Baustellen des Emirats in den vergangenen zehn Jahren wird von Repräsentanten des Landes als undifferenziert und verkürzt zurückgewiesen. Auf den Stadionbaustellen sind den offiziellen Angaben zufolge drei Menschen gestorben.

Der Weltfußballverband Fifa hat alle 32 an der WM teilnehmenden Mannschaften in einem Schreiben dazu auffordert, sich auf den Fußball und nicht auf politische "Schlachten" zu konzentrieren.
"Wir wissen, dass der Fußball nicht in einem Vakuum lebt, und wir sind uns auch bewusst, dass es auf der ganzen Welt viele Herausforderungen und Schwierigkeiten politischer Natur gibt", heißt es darin.
"Aber bitte lassen Sie nicht zu, dass der Fußball in jede ideologische oder politische Schlacht hineingezogen wird."

Europäische Länder, darunter England, drängen die FIFA im Vorfeld der Weltmeisterschaft zu "konkreten Antworten" auf Fragen im Zusammenhang mit Arbeitsmigranten. Unter den zehn Nationen, die sich am Sonntag zu Wort meldeten, sind acht, deren Mannschaften sich verpflichtet haben, dass die Spielführer entgegen den FIFA-Regeln One-Love-Armbinden tragen. Die UEFA-Arbeitsgruppe für Menschen- und Arbeitsrechte drängt auf eine definitive Antwort bezüglich eines Entschädigungsfonds für Arbeiter und des Konzepts eines Zentrums für Wanderarbeiter in Doha. In einer gemeinsamen Erklärung begrüßte sie die Zusicherungen der katarischen Regierung und der FIFA bezüglich der Sicherheit der Fans bei der Weltmeisterschaft, einschließlich der LGBTQ+-Fans. Sie unterstrich jedoch ihr anhaltendes Engagement für Wanderarbeiter im Vorfeld des Turniers.

"Die FIFA hat sich wiederholt verpflichtet, konkrete Antworten auf diese Fragen zu geben - den Entschädigungsfonds für Wanderarbeitnehmer und das Konzept eines Zentrums für Wanderarbeitnehmer, das in Doha eingerichtet werden soll - und wir werden weiterhin darauf drängen, dass diese Antworten gegeben werden", heißt es in der Erklärung. "Wir glauben an die Kraft des Fußballs, weitere positive und glaubwürdige Beiträge zu einem fortschrittlichen und nachhaltigen Wandel in der Welt zu leisten. Die Arbeitsgruppe setzt sich aus 10 Nationen zusammen: England, Belgien, Dänemark, Deutschland, die Niederlande, Norwegen, Portugal, Schweden, die Schweiz und Wales.

Faesers Parteikollege Sigmar Gabriel fand Ende Oktober deutliche Worte auf Twitter:

"Die deutsche Arroganz gegenüber Qatar ist 'zum Ko…'! Wie vergesslich sind wir eigentlich? Homosexualität war bis 1994 in D strafbar. Meine Mutter brauchte noch die Erlaubnis des Ehemanns, um zu arbeiten. 'Gastarbeiter' haben wir beschissen behandelt und miserabel untergebracht."

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