Russland könnte seine diplomatischen Bemühungen im Westen zurückfahren, sagte Außenminister Sergei Lawrow am Dienstag vor neuen Mitarbeitern des Ministeriums. Das Treffen des Außenministers mit den gestrigen Absolventen der russischen Diplomatenschmiede MGIMO und damit dem diplomatischen Nachwuchs des Landes findet jährlich statt.
Lawrow begründete die Abkehr vom Westen mit der zunehmend offenen Feindseligkeit, mit der russische Diplomaten konfrontiert werden, und der Notwendigkeit, sich auf den Auf- und Ausbau von Beziehungen im Rest der Welt zu konzentrieren.
Es habe keinen Sinn, die gleiche diplomatische Präsenz im Westen aufrechtzuerhalten.
"Es gibt keine Arbeit" in den USA und Europa, aber andere Teile der Welt sind "voller Möglichkeiten", sagte der Außenminister.
"Die Menschen arbeiten unter Bedingungen, die man kaum als menschlich bezeichnen kann", sagte Lawrow und verwies auf die "ständigen Probleme, ständigen Drohungen". Er fügte hinzu, dass es "keinen Sinn" habe, das gleiche Niveau der diplomatischen Präsenz beizubehalten.
"Es gibt dort keine Arbeit mehr, seit Europa beschlossen hat, sich von uns abzuschotten."
"Länder in Asien, Afrika und Lateinamerika brauchen dagegen zusätzliche Aufmerksamkeit", fuhr Lawrow fort und versprach, dass Länder, die "bereit sind, auf gleicher Augenhöhe zu arbeiten", mit "vielversprechenden gemeinsamen Projekten" belohnt werden.
Viele Hauptstädte in Ländern der westlichen Allianzen NATO und EU sind in der Tat zu einem unsicheren Ort für die russischen Diplomaten geworden. Laut der Nachrichtenagentur RIA Nowosti kam es zwischen dem 15. Dezember des Jahres 2020 und Mai des Jahres 2022 zu mehr als 150 Verstößen gegen die Unverletzlichkeit der russischen diplomatischen Vertretungen.
Kürzlich wurden diplomatische Einrichtungen in New York und Sofia, Bulgarien, verwüstet, letztere von einem Lokalpolitiker. Die lettische Polizei kündigte im August an, die russischen Konsulate nicht mehr zu schützen, nachdem das Land die Ausstellung von Visa für russische Staatsangehörige eingestellt hatte. Als im vergangenen Monat ein Molotow-Cocktail auf die russische Botschaft in Kanada geworfen wurde, soll die Polizei die Ermittlungen verschleppt und sogar zugelassen haben, dass "aggressive" Demonstranten den Zugang zum Gebäude blockierten. Im März rammte ein Mann einen Lastwagen durch die Tore der russischen Botschaft in Dublin.
In Berlin steht der Eingangsbereich zur Botschaft unter verstärkter Polizeiüberwachung und ist weiträumig durch Polizeigitter abgesperrt. In der touristischen Fußgängerzone gegenüber der Botschaft findet eine proukrainische Dauerveranstaltung mit Falschinformationen zu den angeblichen russischen Verbrechen statt. Straßenlaternen in diesem Bereich sind mit antirussischen Flugblättern zugeklebt. Mehrere hochrangige Botschaftsmitarbeiter haben RT DE noch in den Vorjahren über die unfreundliche Atmosphäre und die behördliche Abgrenzung gegenüber den Aktivitäten der Botschaft in Berlin berichtet.
"Man kann zu einer Liebe nicht zwingen", so Lawrow. "Die russische Geschäftstätigkeit, Kultur- und Bildungsprojekte konzentriert sich immer mehr auf Länder in Asien, Afrika und Lateinamerika." Dies benötige diplomatische Begleitung. Lawrow betonte:
"Das Zentrum unserer Aufmerksamkeit verschiebt sich von einem rasenden und tollwütigen Westen und es zeigt sich, dass es keine Isolation Russlands gibt."
Er wies darauf hin, dass nicht westliche Staaten an einer Vertiefung der Beziehungen zu Russland interessiert seien.
Drei Wochen vor diesem Auftritt hielt der russische Präsident Wladimir Putin eine viel beachtete Rede anlässlich des Beitritts der vier ehemaligen ukrainischen Gebieten in das Staatsgebiet der Russischen Föderation. Er warf dem Westen Plünderung, Kolonialismus und aggressive Absichten gegenüber der restlichen Welt vor. Putin zufolge findet derzeit ein neuer antikolonialer Kampf statt, bei dem Russland wie auch die Sowjetunion im 20. Jahrhundert eine führende Rolle spielt und gespielt hat.
Lawrow bezog sich nicht direkt auf die Äußerungen des Präsidenten, betonte aber, dass "wir in einer Wendezeit leben, die noch langer andauern wird". In solchen Perioden sei es wichtig, sich nicht nur für die Interessen des Landes einzusetzen, sondern auch für das Gefühl des Nationalstolzes, der Ehre und den Schutz des historischen Erbes einzutreten.
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