Eine Analyse von Julia Bokowa
Die internationale Tourismusbranche ist durch die Auswirkungen des gegen Russland entfesselten Sanktionskrieges und der damit verbundenen Erhöhung der Energiepreise in einen perfekten Sturm geraten. Dazu kommen eine unkontrollierte Geldpolitik und der daraus resultierende Anstieg der Inflation. Hinzu kommen die Einführung von Visa-Beschränkungen sowie weiterhin bestehende Quarantänebestimmungen in einigen der wichtigsten Volkswirtschaften der Welt.
In einer Situation, in der es scheinbar nicht mehr schlimmer kommen kann, warnen zahlreiche Experten zunehmend, dass sich die Weltwirtschaft auf schwierige Zeiten einstellen muss. Angesichts dieser Situation könnte die einfache Freude am Reisen bald zum Luxus werden und der internationale Tourismus, der sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einem Massenphänomen entwickelt hat, wieder zum Privileg der Eliten.
Der aktuelle geopolitische Konflikt zwischen Russland und dem Westen hat vielfältige Folgen. Bereits der beispiellose Sanktionskrieg gegen Moskau hat an den Grundpfeilern der modernen Globalisierung gesägt: dem internationalen Handel und den globalen Finanzmärkten.
Die Handelsbeschränkungen gegen die sechstgrößte Volkswirtschaft der Welt (gemäß kaufkraftbereinigtem BIP), die gleichzeitig eine der führenden Rohstoffexporteure ist, haben eine globale Inflationsspirale in Gang gesetzt. Die Preise für Lebensmittel, Rohstoffe und Energie steigen überall an. Doch natürlich ist dies nicht der alleinige Grund für eine dermaßen große Krise. Auch die Geldpolitik der Zentralbanken der Welt hat dabei eine maßgebliche Rolle gespielt.
Die Glaubwürdigkeit des modernen, auf den US-Dollar ausgerichteten Finanzsystems, wurde durch das Einfrieren von Moskaus Gold- und Devisenreserven und der im Ausland befindlichen Vermögenswerte russischer Unternehmen, Banken und Bürger noch mehr untergraben. Gleichzeitig findet die zunehmende Fragmentierung der Weltwirtschaft vor dem Hintergrund eines neuen Phänomens statt – dem Bruch der Verbindungen zwischen den Menschen und den Kulturen.
Der Tourismussektor hat sich hier als besonders empfindlich erwiesen. Die Welttourismusorganisation der Vereinten Nationen (UNWTO) hat prognostiziert, dass die Zahl der internationalen Reisen bis Ende dieses Jahres nur noch 55 bis 70 Prozent des Niveaus von vor der Pandemie betragen könnte. Während die Branche zuerst noch unter den Quarantänemaßnahmen zu leiden hatte, sah sie sich plötzlich mit neuen Herausforderungen – steigende Treibstoffpreise und Kosten für Flugreisen sowie Visa-Beschränkungen zwischen einzelnen Staaten – konfrontiert.
Die Probleme im Tourismussektor drohen eine Reihe von Konsequenzen nach sich zu ziehen, vom Bankrott vom Tourismus abhängiger Unternehmen bis hin zur Verringerung der Lebensqualität von Menschen, für die ein regelmäßiger Tapetenwechsel wichtig ist, um ihre psychische Gesundheit aufrechtzuerhalten.
Die Bedeutung des Tourismus für die Wirtschaft
Laut einem gemeinsam mit Oxford Economics erstellten Bericht des Weltrats für Tourismus und Reisen (WTTC) betrug der Beitrag der Tourismusbranche zum globalen BIP im Jahr 2019 10,4 Prozent. Zwei Jahre später, im Jahr 2021, war dieser Wert bereits auf 6,6 Prozent gefallen. Im Jahr 2019 gaben Touristen und Geschäftsreisende für ihre und während ihrer Reisen 1,7 Billionen US-Dollar aus, was knapp sieben Prozent des internationalen Handels entsprach. Zwei Jahre später sanken diese Ausgaben auf 700 Millionen Dollar. Das ist ein Rückgang von einer Billion Dollar, was mit dem BIP der Niederlande vergleichbar ist.
Vor der Pandemie im Jahr 2019 hatte der internationale Tourismus direkte und indirekte Auswirkungen auf 10,6 Prozent aller Arbeitsplätze weltweit, rund 334 Millionen. Im Jahr 2021 waren noch 290 Millionen Menschen im Tourismussektor beschäftigt. Ein einfacher Vergleich erleichtert das Verständnis des Ausmaßes dieser Jobverluste: Rund 44 Millionen Menschen haben ihre Jobs im Tourismus verloren – das entspricht in etwa der Gesamtbevölkerung von Argentinien.
Das Damoklesschwert eines noch weitreichenderen Arbeitsplatzabbaus schwebt noch immer über unseren Köpfen, da viele dieser Arbeitnehmer bisher durch spezielle staatliche Programme unterstützt wurden. Jedoch ist unwahrscheinlich, dass die Beschäftigung im internationalen Reiseverkehr aufrechterhalten wird, wenn sich die Branche nicht vollständig erholt, betont der Bericht der WTTC. Die Welt ist nicht zu ihrem früheren Selbst zurückgekehrt und die alten Verbindungen wurden nicht vollständig wiederhergestellt. Politische Risiken üben weiterhin Druck auf die internationalen Märkte aus, während sich eine "neue Normalität" erst noch festigen muss.
Die Hauptopfer
Russische Touristen haben die Auswirkungen der Einschränkungen bei internationalen Reisen stärker zu spüren bekommen als die meisten anderen Europäer. Laut Maja Lomidze, der Exekutivdirektorin des Verbands der russischen Reiseveranstalter, ist der Touristenstrom aus Russland in den Rest des Kontinents in diesem Jahr stark zurückgegangen. Die Hauptgründe für diesen enormen Rückgang sind Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Visa sowie die erhöhten Kosten und die Dauer der Flugreisen. In den ersten sieben Monaten dieses Jahres machten organisierte Besuche russischer Touristen in andere europäische Länder nur fünf bis zehn Prozent des Volumens der Zeit vor COVID aus.
Im Februar verboten die Europäische Union und die Vereinigten Staaten Direktflüge von und nach Russland, während im Gegenzug der russische Luftraum für westliche Fluggesellschaften geschlossen wurde. Die Reisezeit von Moskau nach New York hat sich dadurch deutlich erhöht und beträgt nun mehr als einen Tag. Der Flug von Moskau nach Wien über einen Umsteigeflughafen dauert jetzt mindestens acht Stunden statt wie zuvor zweieinhalb. Die Flüge sind nicht nur in ihrer Dauer länger geworden, sondern auch deutlich teurer. Ein einfacher Flug von Moskau nach Wien kostet jetzt etwa 3.500 US-Dollar, der Preis ist in den Jahren zuvor stetig gestiegen. Davor war dasselbe Ticket um mindestens das Zwanzigfache günstiger zu haben.
Die Tschechische Republik, Litauen, die Niederlande, Norwegen, Estland und Lettland haben die Ausstellung von Touristenvisa an Russen eingestellt, während viele andere Staaten die möglichen Zeitfenster für die Einreichung von Dokumenten einschränken. Beispielsweise war im vergangenen September das letzte freie Zeitfenster, das vom italienischen Visazentrum in Moskau angeboten wurde; im kommenden November und im französischen Visazentrum gibt es in naher Zukunft überhaupt keine freien Zeitfenster mehr.
Russische Touristen hatten sich jedoch schon lange vor diesem Jahr an Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Visa gewöhnt. Geschlossene Konsulate und eine zunehmende Ablehnung der Ausstellung von Visa sind seit 2016 deutliche Zeichen der taumelnden Beziehungen und des Vertrauens zwischen Russland und dem Westen. Infolgedessen gab es 2021 nur etwa 130.000 Ausreisen aus Russland in die USA – dreimal weniger als im Jahr 2014.
In der aktuellen Situation suchen die Russen nach neuen Reisezielen oder kehren zu altbekannten zurück. So erwartet Thailand in diesem Jahr etwa eine Million russische Touristen. Auch der russische Inlandstourismus hat profitiert, wobei Umfragen zufolge die Krim die Liste der beliebtesten Reiseziele innerhalb des Landes anführt.
Der Abpraller-Effekt
Im Jahr 2021 belief sich die Zahl der Touristenreisen aus Russland auf 18 Millionen, zweieinhalb Mal weniger als im Jahr vor Ausbruch der Corona-Pandemie. In diesem Jahr werden die Zahlen für den Auslandstourismus weitaus niedriger ausfallen und die Statistiken in bestimmten Bereichen sind ziemlich beeindruckend. Die Zahl der russischen Touristen, die von April bis Juni in die Vereinigten Staaten gereist sind, sank im Jahresvergleich um mehr als das 900-fache – von 36.700 auf 39 Personen.
Laut Andrei Barkhota, einem unabhängigen Reiseexperten, macht ein starker Rubel den Auslandstourismus für die Russen zwar attraktiver, aber geopolitische Hürden hindern sie daran, davon zu profitieren. Dies wiederum hat die russischen Touristen dazu gezwungen, sich auf inländische Ziele oder auf Länder zu konzentrieren, die keine Beschränkungen eingeführt haben.
Die Abwesenheit russischer Touristen hat darüber hinaus zu Verlusten für westliche Urlaubsorte geführt. Laut Euromonitor International tragen russische Touristen ein Prozent der weltweiten Ausgaben für Reisen bei. Die Russen gaben im Jahr 2021 9,1 Milliarden US-Dollar im Ausland aus. Aufgrund der aktuellen Schwierigkeiten werden sie in diesem Jahr voraussichtlich weniger als 6,9 Milliarden US-Dollar zum globalen Tourismus beitragen. Auch wenn diese Zahl nicht kritisch erscheinen mag, so ist sie doch für einige Regionen eine kritische Größe.
"Der Verlust wohlhabender russischer Touristen wird die Erholung der Branche nicht untergraben, aber vielen Ländern ernsthaften Schaden zufügen: von Europa und der Karibik bis nach Thailand", stellt Euromonitor fest. Einige europäische Urlaubsorte spüren bereits die Auswirkungen des Ausbleibens der russischen Gäste. Italien hatte gehofft, in diesem Jahr so viele russische Touristen willkommen zu heißen wie 2019, als 1,7 Millionen Reisende dort rund eine Milliarde Euro ausgaben. Doch allein die Stadt Rom muss durch deren Abwesenheit in diesem Jahr auf Einnahmen in Höhe von rund 150 Millionen Euro verzichten.
Touristen aus Russland hatten schon immer den Ruf, im Urlaub viel Geld auszugeben. Das spanische Institut für Tourismus hat geschätzt, dass der durchschnittliche Russe auf Reisen etwa 175 Euro pro Tag ausgibt. Das ist deutlich mehr als zum Beispiel der sparsame Deutsche, der etwa 138 Euro pro Tag oder der knausrige Franzose, der lediglich 99 Euro pro Tag ausgibt. Zuvor begrüßte Spanien jährlich über 1,3 Millionen russische Besucher.
Während Finnland vor COVID mit 3,6 Millionen Reisenden im Jahr 2019 das drittbeliebteste Reiseziel für Russen war, reisten 2021 nur etwas mehr als 230.000 in das skandinavische Land. Vergangenen Monat unterstützte die finnische Premierministerin Sanna Marin den Vorschlag, die Erteilung von Visa an russische Staatsbürger einzuschränken. Und dies trotz der Tatsache, dass die finnischen Behörden selbst davon ausgehen, dadurch jährlich 600 Millionen Euro zu verlieren, da die Russen 19 Prozent der finnischen Einnahmen aus dem internationalen Tourismus beitragen.
Auch Zypern wird voraussichtlich vergleichbare Verluste erleiden. Bis vor Kurzem besuchten jährlich etwa zwei Millionen russische Touristen die Ferienorte der Insel und brachten etwa 290 Millionen Euro in die Wirtschaft des Landes ein, was einem Fünftel der Einnahmen Zyperns aus dem Tourismus entspricht.
Alles hat sich verteuert
Westeuropäische Urlaubsorte hoffen daher auf Besucher aus anderen Ländern – etwa aus Großbritannien. In der Zeit vor der Krise besuchten jährlich über 70 Millionen Menschen aus dem Vereinigten Königreich die EU. Deren Zahl ging im Jahr 2021 jedoch mit 16 Millionen Besuchern auf weniger als ein Viertel zurück.
Allerdings forderten die wirtschaftlichen Schwierigkeiten dieses Jahres einen bemerkenswerten Tribut von den britischen Verbrauchern. Mit einer Rekordinflation bei gleichzeitig steigenden Energiepreisen, sinkenden Reallöhnen und steigenden Kosten für Flugreisen, ist die Verschärfung der Krise bei den Lebenshaltungskosten für die Briten offensichtlich geworden und zwingt sie, sich stärker für Inlandsreisen zu entscheiden. Erschwerend kommt hinzu, dass häufige Störungen im Flugbetrieb die Qualität der Reisen deutlich verschlechtert haben. Daher ist wenig überraschend, dass sich der Auslandstourismus aus dem Vereinigten Königreich, der größtenteils andere Teile Europas zum Ziel hatte, selbst nach den optimistischsten Prognosen erst bis 2024 erholen wird.
Der Anstieg der Flugkosten ist ein globaler Trend. Einer der Hauptgründe dafür sind die steigenden Treibstoffkosten. Ihre Preise sind seit Beginn der COVID-19-Pandemie deutlich gestiegen und bleiben weiterhin hoch, was durch die gegen Russland verhängten Sanktionen zusätzlich verschärft wird.
Der Internationale Verband der Luftfahrt (IATA) hat gewarnt, dass "die Flugpreise ohne Zweifel mit den Treibstoffkosten ansteigen werden". Laut dem Generaldirektor von IATA, Willie Walsh, werden diese Kosten an die Verbraucher weitergegeben. Michael O'Leary, der Chef der Billigfluglinie Ryanair, kündigte an, dass das Zeitalter der Billigfliegerei vorbei ist. Überdies rechnet er damit, dass die Kosten für Flugtickets in den nächsten fünf Jahren wahrscheinlich noch weiter steigen werden, da Flugreisen allgemein "zu billig" geworden seien, um damit noch Gewinne zu erzielen, während die Kosten in der Branche in die Höhe schießen.
Nicht nur Flugreisen sind teurer geworden, auch die Hotelpreise haben in Europa angezogen, teilweise um mehr als 20 Prozent gegenüber 2019. Unterdessen haben sich auch die Kosten für Mietwagen in den letzten drei Jahren wegen eines Mangels an Neuwagen verdoppelt. Ursächlich dafür sind Werksschließungen im Zusammenhang mit COVID und die Verkleinerung der Flotten vieler großer Autovermieter während der Pandemie. Die steigenden Kosten für ein internationales Reisepaket, das oft Flug, Hotel und Mietwagen beinhaltet, drücken auf die Nachfrage.
Statistiken aus den USA scheinen dem globalen Trend zu widersprechen. Der US-amerikanische Inlandstourismus steht unter Druck, da die Kosten für Inlandsflüge in der ersten Hälfte dieses Jahres um 50 Prozent gestiegen sind und immer noch sehr hoch sind. Zugleich wächst aber die Nachfrage nach Auslandsreisen, insbesondere nach Europa.
Laut Andrei Barkhota ist die steigende Nachfrage aber weniger ein Indikator für eine zunehmende Zuversicht der US-Verbraucher, als vielmehr für die aktuelle Situation an den Devisen- und Finanzmärkten. "In diesem Jahr ist der Dollarkurs gegenüber der britischen Währung und dem Euro um 15 Prozent gestiegen, was den Zustrom von Touristen aus den Vereinigten Staaten nach Europa anregt."
Geopolitische Spannungen und die Kürzung monetärer Anreize zur Unterstützung der Wirtschaft und der Finanzmärkte in Verbindung mit dem steigenden Leitzins der US-Notenbank haben die Nachfrage nach dem Dollar immens erhöht. Europa war in den letzten 20 Jahren für Amerikaner nie so erschwinglich und so billig. Unter Berücksichtigung aller globalen Trends könnten diese Reisen nach Europa für viele US-Bürger jedoch der letzte Atemzug frischer Luft sein.
Übersetzt aus dem Englischen.
Julia Bokowa ist Redakteurin bei RT.
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