Eine Analyse von Dr. Karin Kneissl
Vor genau 100 Jahren, im September 1922, brannte die levantinische Stadt Smyrna – und mit ihr gingen Zehntausende Menschen im Chaos der Nachkriegswirren unter. Die Stadt heißt heute Izmir. Das bunte Völkergemisch, das einst die urbanen Kulturen im östlichen Mittelmeer ausgemacht hat, existiert nicht mehr. Diese Zivilisation wurde von blindem Nationalismus und Intrigen der Siegermächte vernichtet.
Die Massaker von Smyrna sind ein grausames Kapitel der blutigen Nachkriegsgeschichte zwischen einem zerfallenden Osmanischen Reich und dem aufstrebenden griechischen Nationalstaat, der bis in die 1920er Jahre die "Große Idee" (Megali Idea) von der Wiedererrichtung des Byzantinischen Reiches verfolgte. Das russische Zarenreich hätte einer Vereinbarung mit Frankreich und Großbritannien zufolge Konstantinopel übernommen, aber dazu kam es infolge der Oktoberrevolution dann nicht. Hier wollte nun Griechenland seinen Machttraum verwirklichen.
Großbritannien spielte auch in diesem Kriegstheater aus Intrige und Verrat eine besonders brutale Rolle. Die Folgen jener Kriegsjahre zerstörten damals Hunderttausende von Menschenleben und wirken bis heute nach. Gewissermaßen ist jener "Große Krieg", wie ihn die Zeitgenossen nannten, noch nicht zu Ende.
Die Geschichte wirkt nach. Die Erinnerung an den Krieg, den Griechenland 1919 gegen das zerfallende Osmanische Reich eröffnete, vergiftet das Verhältnis zwischen den beiden NATO-Staaten noch heute. Im Vertrag von Sèvres, abgeschlossen und benannt nach einem Pariser Vorort, hatten die Siegermächte des Ersten Weltkriegs 1919 das einstige Weltreich der Osmanen auf Kleinasien reduziert.
Frankreich, Großbritannien und Italien sicherten sich mit Waffengewalt weite Gebiete. Auch Griechenland konnte als Juniorpartner Teile Thrakiens gewinnen. Zur Erinnerung: der Gründer der modernen Türkei, der Offizier Mustafa Kemal und spätere Kemal Atatürk, wurde in der Stadt Saloniki, im heutigen griechischen Thessaloniki geboren. Alle diese Städte und die Dörfer im Umland wurden im Zuge der großen Umsiedlungen, eines blutigen Bevölkerungsaustausches, vernichtet.
Im Rahmen des nachfolgenden Vertrages von Lausanne im Jahre 1923, der wiederum die Beschlüsse von Sèvres teils ersetzte, wurde dieser Austausch der griechischen und türkischen Bevölkerungen legalisiert. Mindestens 1,25 Millionen Griechen und 500.000 Türken mussten ihre jeweilige Heimat verlassen. Ihre Erinnerungen und Traumata prägen bis heute das kollektive Gedächtnis der Menschen, sowohl in der Türkei als auch in Griechenland.
Seegrenzen und Rohstoffe
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat in den letzten Jahren in Reden immer wieder den Vertrag von Lausanne infrage gestellt und türkische Gebietsansprüche auf Inseln in der Ägäis erhoben. Die Beziehung der beiden Nachbarländer und NATO-Mitglieder, die unter dem griechischen Premier Alexis Tsipras um vieles entspannter war, hatte zuletzt neuerlich einen Tiefpunkt erreicht. Vor einigen Tagen drohte Erdoğan: "Wir können plötzlich eines Nachts kommen." Ankara wirft Athen vor, griechische Inseln in der Ostägäis unrechtmäßig militarisiert zu haben und stellt deshalb die Souveränität Griechenlands über diese Inseln infrage. Streit gibt es auch um die Ausbeutung von Bodenschätzen in der Ägäis. Im Mai hatte Erdoğan den Draht zu Mitsotakis gekappt und auch alle anderen Kommunikationskanäle zwischen den Ländern für geschlossen erklärt.
Die zerstrittene NATO
Die Türkei stellt mit ihrer schlagkräftigen Armee nach den USA die wichtigsten NATO-Streitkräfte und ist damit die NATO-Macht Nummer 2. Das ist in Washington, D.C. wohl bekannt. Entsprechend deutlich war die US-Kritik an den russisch-türkischen Waffengeschäften der letzten Jahre, doch die Türkei geht ihren eigenen, bislang recht unabhängigen Weg.
Erdoğan nahm vor zwei Wochen am Gipfeltreffen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) in Samarkand teil und will die Türkei zum zehnten Mitglied in der SOZ machen. Die türkische Diplomatie und vor allem auch ihre Außenhandelspolitik sind global ausgerichtet, denn der afrikanische Kontinent spielt dabei ebenso eine Rolle wie Eurasien oder die transatlantische Ausrichtung.
In der unmittelbaren Nachbarschaftspolitik stellen sich die großen Hürden, ob in Syrien oder in der Ägäis. Die Spannungen der letzten Wochen reihen sich in eine lange Chronik der Drohungen, aber auch handfester Konfrontationen ein. Die Erdgas-Exploration im "Levant Bassin", die vor allem Israel bilateral mit Zypern seit bald 14 Jahren vorantreibt, ist nur ein Zankapfel unter vielen. Die türkische und griechische Marine provozieren einander in regelmäßigen Intervallen in ihren Disputen um Seegrenzen, um Wirtschaftszonen und stellen immer wieder historisch begründete Gebietsansprüche. Es sind auch Zerreißproben innerhalb der NATO, welche vielleicht sogar von einigen anderen NATO-Mitgliedern eher befeuert denn kalmiert werden.
So habe Griechenland "unrechtmäßig" gepanzerte Fahrzeuge auf den Ägäischen Inseln stationiert, berichtete die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu unter Berufung auf Militärquellen. Die Behauptung wurde durch Drohnenaufnahmen untermauert, die angeblich das Entladen der Fahrzeuge von einem griechischen Landungsschiff zeigen. Athen habe nicht näher bezeichnete "von den USA gespendete Militärfahrzeuge" auf die Ägäis-Inseln Lesbos (in der Türkei als Midilli bekannt) und Samos (Sisam) geschickt, so behaupten die Quellen. Jede Insel soll 23 bzw. 18 Fahrzeuge erhalten haben, die im Laufe der letzten Woche geliefert wurden.
Wie geht es weiter?
Sowohl in Athen als auch in Ankara stehen Wahlen bevor. Die Verbalattacken und Störmanöver werden daher oftmals als Botschaft an die jeweilige Wählerschaft interpretiert. Beide Regierungen haben innenpolitisch mit Wirtschaftsproblemen zu kämpfen. Doch sind beide auch realistisch genug, dass eine handfeste militärische Konfrontation niemandem nützt. Profiteur ist vielmehr die Rüstungsindustrie. Griechenland war auch in den Jahren der schlimmsten Krise – wie etwa 2010 und 2011 – ein wichtiger Importeur von Kriegsmaterial.
Die aktuelle Situation ist also nichts Neues. Sie gewinnt nur angesichts der greifbaren Spannungen weltweit und in Europa im Besonderen mehr an Gewicht. Am Rande der UN-Generalversammlung sahen türkische und griechische Regierungsvertreter einander nicht. Möglich, dass es zu einem griechisch-türkischen Treffen bei der ersten Zusammenkunft der "Europäischen Politischen Gemeinschaft" Anfang Oktober in Prag kommt. Dorthin sollen die Staats- und Regierungschefs von 44 Staaten eingeladen werden. Ein weiteres Forum, ein weiterer Gesprächsreigen könnte das werden. Die Fehden werden aber angesichts der vielen offenen Baustellen im bilateralen Verhältnis zwischen Ankara und Athen vermutlich weitergehen.
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