Zwischen der UN-Vollversammlung und dem großen Rest der Welt

Multilaterale Diplomatie umfasst mehr als zwei Akteure. Parallel zur UNO sind regionale Organisationen entstanden. Zuletzt vermehrt unter wichtigen Energielieferanten und deren Kunden, wie die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit. Die Welt dreht sich in neue Richtungen, teils kriegerisch und teils über Diplomatie. Ein Gastbeitrag von Karin Kneissl

Von Dr. Karin Kneissl

In dieser Woche tagt wieder die Vollversammlung der Vereinten Nationen. Alle 193 UNO-Mitglieder haben in diesem Gremium eine Stimme. Wer vor diesem Forum spricht, richtet sein Wort an die internationale Gemeinschaft. Oft reiht sich Rede an Rede, Bekenntnis an Forderung und Worthülsen werden wiedergekäut. Die Langeweile vieler Texte ergibt sich aus den Textbausteinen, die die Redenschreiber oft von Jahr zu Jahr weiterschieben. Doch die Reden in diesen Tagen sind kriegerisch. Es geht um Warnungen, um Apokalypse und Waffenlieferungen. Mitten in dieses Redenabfolge reihte sich die Ankündigung des russischen Präsidenten Wladimir Putin einer Teilmobilisierung und der Bereitschaft, alle Waffensysteme zur Verteidigung Russlands einzusetzen.

Es scheint so, als duellierten sich zwischen Moskau und New York Reden versus Reden und Waffenlieferungen versus nukleare Option. Von der Idee der Diplomatie, die sich für viele Staatenvertreter nur mehr auf martialische Tweets und andere Postings reduziert, ist in unserer Zeit wenig übriggeblieben. Die vielen bilateralen 20-Minuten-Treffen mit Foto am Rande der UNO-Generalversammlung ändern daran wenig.

Das Vertrauen, ein hohes Gut in zwischenstaatlichen wie in zwischenmenschlichen Beziehungen, ist vielerorts zerbrochen. Es scheint fast unwiederbringlich zerstört. Das diplomatische Porzellan, das es zu kitten gilt, ist so zerschmettert, dass eigentlich völlig neues Porzellan hergestellt werden muss. In dieser verfahrenen Situation, die sich in den Monologen auf der Rednerbühne in der UNO-Generalversammlung zeigt, gewinnen andere Foren an Bedeutung.

Die neuen Regionalorganisationen im Namen der Energie

In den 1990er Jahren bildete sich die lose Gruppe der Shanghai Five, die seit 2001 unter dem Namen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) firmiert. Und das Unwissen bzw. die Gleichgültigkeit gegenüber dieser Regionalorganisation ist in westlichen Kreisen erstaunlich groß. Die SOZ, die 2001 mit sechs Mitgliedern begann, wuchs mit dem Beitritt Indiens und Pakistans im Jahr 2017 schließlich auf acht Mitglieder an. Iran wird als neuntes Mitglied der Organisation begrüßt, und viele weitere sind in der Warteschlange. Die Mitgliedschaft ermöglicht Teheran Kontakte auf höchster Ebene und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, China, Indien, Pakistan und mehreren zentralasiatischen Ländern – fast die Hälfte der Weltbevölkerung, die 28 Prozent des globalen Wirtschaftsaufkommens ausmacht. Außerdem vertritt die SOZ 43 Prozent der Weltbevölkerung und ist damit die zweitgrößte internationale Organisation nach der UNO.

Die Tatsache, dass dieses Forum die wichtigsten Energielieferanten und -verbraucher zusammenbringt, um im Bereich Sicherheit und Energie zusammenzuarbeiten, scheint in Europa kaum jemanden zu interessieren. In Aufsätzen über die SOZ wird die geringe Mitgliederzahl gerne betont, auf all die anderen demografischen und wirtschaftlichen Faktoren wird dabei glatt verzichtet.

Meines Erachtens sollte die SOZ nicht sehr viel mehr Mitglieder noch aufnehmen. Denn die Erfahrung und auch die Verwaltungswissenschaft besagen, dass Entscheidungen im Idealfall von acht bis zwölf Vertretern getroffen werden können. Wenn 27 Delegationen um einen Tisch sitzen, wie dies bei den Ratssitzungen der EU der Fall ist, wobei noch die vielen Vertreter der Kommission hinzukommen, dann wird jeder ernsthafte politische Dialog unmöglich. Die Entscheidungsfindung reduziert sich auf eine technokratische Ebene. Die beschränkte Mitgliederzahl ist mit ein Grund, warum die fünf Vetomächte im UNO-Sicherheitsrat auch unter sich bleiben wollen. Das Patt dominiert zwar die Entscheidungsfindung, aber wenn man sich einig ist, dann funktioniert dazwischen auch wieder das Gremium.

Die Türkei möchte SOZ-Mitglied werden, was für viele Kontroversen sorgt. Für die NATO-Kollegen der Türkei ist dies gleichsam ein potenzieller Vertragsbruch ihrer Statuten, denn die SOZ hält regelmäßig gemeinsame militärische Übungen ab. Dieses Vorhaben Ankaras ist nicht neu, denn die Türkei positioniert sich diplomatisch geschickt zwischen Ost und West, gerade im Ukraine-Konflikt gelingt ihr hierbei eine Sonderstellung in der Vermittlung. Da die Türkei zudem seit über 50 Jahren vergeblich Teil der europäischen Integration werden will, ist die Ausrichtung nach Osten, wo die wirtschaftliche und demografische Gegenwart und Zukunft stattfinden, jedenfalls nachvollziehbar.

Wer die Bilder vom SOZ-Treffen in der usbekischen Stadt Samarkand mitverfolgte, konnte aus aller Ferne eine gewisse Vertrautheit zwischen den Staatschefs beobachten. Hierfür sind ausgeruhte Treffen erforderlich, wo nicht alle von einem Termin zum nächsten eilen, wie dies am UNO-Sitz in New York meist der Fall ist. Diesen Aspekt der entspannten Atmosphäre versuchten der französische Präsident Valéry Giscard d'Estain und der deutsche Kanzler Helmut Schmidt mit der Gründung der G7 in Gestalt der Kamingespräche zu schaffen. Die G7-Treffen, die kurzfristig bis 2014 unter Teilnahme Russlands auf G8 anwuchsen, sind indes auch zu medialen Spektakeln erstarrt. Inhaltlich wichtiger ist ohnehin das größere Gremium der G20, in dem die wirklichen Akteure vertreten sind. Also Volkswirtschaften wie China und Brasilien, wohingegen ich mich seit Jahren frage, warum das seit Jahren so fragile Italien immer noch in der G7-Gruppe diese wichtige Rolle spielt.

Ein anderes Forum, das sich seit dem Dezember 2016 gleichsam als institutionell herausgebildet hat, ist das sogenannte OPEC-plus-Format. Es handelt sich dabei um eine mittlerweile umfassend koordinierte Zusammenarbeit der 13 Mitglieder der Organisation Erdöl exportierender Länder und ihrer einstigen Rivalen, der sogenannten Nicht-OPEC-Produzenten, wie Russland. Gemeinsam stellen sie 23 Erdölproduzenten und können über ihre Koordination in der Produktionsquote einen viel größeren Hebel ansetzen, als dies der OPEC allein gelingen würde. Nicht an diesem Format wirken die wichtigen Energieexporteure USA und Norwegen mit.

Die Ambitionen der BRICS+

Als vor rund 20 Jahren die Abkürzung BRIC entstand, ging es um die aufstrebenden Volkswirtschaften und deren Rolle im Rohstoffhandel. Die ersten Treffen vereinten Brasilien, Russland, Indien und China. Mit der Einbindung von Südafrika entstand BRICS, und das Plus-Zeichen ist nun Suffix. Denn BRICS+ versteht sich auch als Forum für wichtige Volkswirtschaften wie Argentinien und andere.

Das wohl ambitionierteste Projekt ist, eine multilaterale Finanzinstitution zu gründen, die dem Internationalen Währungsfonds (IWF) mit einem neuen Währungskorb, der nicht mehr vom US-Dollar dominiert würde, Konkurrenz zu machen.

Die kriegerische Auseinandersetzung des Jahres 2022 zeigt sich neben all dem menschlichen Elend auf dem Schlachtfeld als ein Konflikt zwischen Macht am Finanzmarkt und Macht am Rohstoffmarkt. Es entstehen damit auch neue Hierarchien in den diversen internationalen Organisationen. Als die Satzung der Vereinten Nationen 1945 geschrieben wurde – übrigens ein brillantes Statut, eine Kodifizierung des geltenden Völkerrechts –, waren diese Entwicklungen noch nicht in allen Facetten erkennbar. Was wir gegenwärtig erleben, ist, wie sich auch institutionell im weiten Feld der internationalen Organisationen manches neu herausbildet.

Die Welt dreht sich atemberaubend schnell, und die Geschichte geht weiter.

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