Der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij bezeichnete die derzeitigen antirussischen Sanktionen als "zu schwach" und forderte am Montag gegenüber der Washington Post, dass der Westen ein umfassendes Embargo gegen alle Importe von Energieträgern aus Russland verhängen sowie russischen Bürgern jegliche Einreisen in fremde Länder für mindestens ein Jahr verbieten soll.
Während des Interviews, das in seinem Bunker-Büro in Kiew abgehalten wurde, sagte Selenskij, dass "die wichtigste Sanktion darin besteht, die Grenzen abzuschotten – weil Russland einem Nachbarland Gebiete entreißt". Russen sollten "solange in ihrer eigenen Welt leben, bis sie ihre Haltung ändern".
"Egal welche Art von Russen, sie sollen sich nach Russland scheren", sagte er laut der Zeitung und argumentierte dabei, dass eine kollektive Bestrafung der russischen Bevölkerung der einzige Weg sei. "Dann werden sie es kapieren. Dann werden sie sagen: 'Dieser Krieg hat nichts mit uns zu tun. Schließlich kann nicht die ganze russische Bevölkerung dafür verantwortlich gemacht werden, oder etwa nicht?' – kann man aber. Diese Bevölkerung hat diese Regierung gewählt, sie bekämpft sie nicht, kritisiert sie nicht und demonstriert nicht gegen sie."
Der ukrainische Präsident bestand darauf, dass dies "der einzige Weg sei, den russischen Präsidenten Wladimir Putin zu beeinflussen" und wandte sich somit über die Washington Post direkt an die russische Öffentlichkeit, wobei er hinzufügte: "Die Russen fordern von der ganzen Welt, dass man nach ihren Regeln leben soll. Dann geht hin und lebt dort (in Russland)."
Die USA und ihre Verbündeten – Kanada, die EU, Japan, Südkorea und Australien – haben Hunderte von russischen Bürgern, Unternehmen und Organisationen wegen des russischen Einmarsches in die Ukraine mit Sanktionen belegt. Mit über 10.000 individuellen Sanktionen ist Russland mittlerweile das am stärkste sanktionierte Land der Welt und übertrifft damit selbst Länder wie Iran, Venezuela, Myanmar und Kuba zusammengefasst.
Allerdings gingen diese Sanktionen in den meisten Fällen nach hinten los. US-Präsident Joe Biden behauptete erst, die Sanktionen würden die russische Wirtschaft ruinieren, nur um später Russland – konkret Wladimir Putin – für die grassierende Inflation und die explodierenden Kraftstoffpreise in den USA verantwortlich zu machen.
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock hatte ebenfalls großmäulig angekündigt, man werde "Russlands Wirtschaft ruinieren" – jetzt befürchtet die Ampel-Regierung einen "Wutherbst" angesichts der steigenden Gas- und Lebensmittelpreise in Deutschland.
Das Interview mit Selenskij fand zeitgleich mit der Ankündigung des Weißen Hauses statt, weitere Waffen und militärische Güter im Wert von einer Milliarde US-Dollar in die Ukraine zu schicken, gepaart mit weiteren 4,5 Milliarden US-Dollar Finanzhilfen zur Stützung des ukrainischen Haushalts. Selenskij beteuerte, dass man die "besetzten Gebiete von den Okkupanten befreien werde, sobald die Ukraine genügend Kräfte und Mittel bekommt".
An anderer Stelle beschuldigte Selenskij derweil Russland, "nuklearen Terrorismus" zu begehen und das größte Atomkraftwerk Europas – das derzeit von russischen Truppen besetzt und bewacht wird – mit Raketen beschossen zu haben. Selenskij gab an, am vergangenen Sonntag mit dem Präsidenten des Europäischen Rates, Charles Michel, darüber gesprochen und ihn über die Lage in der Ukraine informiert zu haben, "insbesondere über jene im Kernkraftwerk in Saporoschje".
"Der russische Nuklearterror erfordert eine deutlichere Reaktion der internationalen Gemeinschaft", sagte Selenskij und fügte hinzu, er wolle, dass der Westen "Sanktionen gegen die russische Nuklearindustrie" verhängt.
Obwohl die Europäische Union seit Ende Februar sieben aufeinanderfolgende Sanktionspakete gegen Russland verabschiedet hat, hat sie die Nuklearindustrie des Landes nicht ins Visier genommen. Die EU verlässt sich darauf, dass Russland etwa 20 Prozent des benötigten Urans liefert, während das staatliche Nuklearenergieunternehmen Rosatom Anlagen in Ungarn, der Slowakei und Finnland betreibt, wobei die Zusammenarbeit bei der finnischen Anlage ausgesetzt wurde. Auch das französische Nuklearunternehmen EDF hat in den letzten Jahren eine Reihe von Kooperationsverträgen mit Rosatom abgeschlossen.
Während Kiews Behauptungen von den westlichen Medien kritiklos übernommen wurden, wird gerne vergessen, dass das Atomkraftwerk seit Ende Februar unter die Kontrolle russischer Streitkräfte kam und es somit unglaubwürdig ist, dass russische Truppen ihre eigenen Truppen beschießen. Im Gegenzug beschuldigte Moskau die ukrainischen Streitkräfte des Beschusses der Anlage. Russland hat sich bereits an die Vereinten Nationen und die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO) gewendet und dazu aufgerufen, einzugreifen und die Ukraine zu zwingen, von weiteren Angriffen auf die Anlage abzusehen.
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