Das iranische Atomprogramm schreite mit Vollgas voran, und die Internationale Atomenergiebehörde habe nur eine sehr begrenzte Sicht auf die neuen Entwicklungen des Programms, sagte IAEO-Chef Rafael Grossi der spanischen Zeitung El País in einem am Freitag veröffentlichten Interview.
Im Juni begann Iran damit, Kameras der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) zur Überwachung seiner Nuklearanlagen abzustellen, die im Rahmen des Atomabkommens von 2015 mit den Weltmächten installiert worden waren. Nur Tage zuvor hatte der IAEO-Gouverneursrat Teheran in einer Resolution mangelnde Kooperation vorgeworfen. Nach der Abschaltung von 27 IAEO-Kameras sagte Grossi seinerzeit, es könnte ein "fataler Schlag" für die Chancen sein, das Atomabkommen nach dem Ausstieg der USA aus dem Atomdeal im Jahr 2018 wiederzubeleben.
"Im Endeffekt habe ich seit fast fünf Wochen eine sehr eingeschränkte Sicht, mit einem Atomprogramm, das voranschreitet. Wenn es also zu einer Einigung kommt, wird es sehr schwierig für mich, das Rätsel dieser ganzen Zeitspanne der erzwungenen Unsichtbarkeit zu rekonstruieren", sagte er. Grossi hatte im Juni gesagt, es gebe ein Zeitfenster von nur drei bis vier Wochen, "um zumindest einen Teil der Überwachung wiederherzustellen, die abgeschaltet wurde, bevor die IAEO die Fähigkeit verlor, die wichtigsten nuklearen Aktivitäten Irans zusammenzufügen".
Derzeit reichert Iran mittels seiner neu in Betrieb genommenen Zentrifugen immer schneller und immer höher an. Uran wurde auf 5, dann auf 20 und zuletzt auf 60 Prozent angereichert. Nach einem Bericht der IAEO soll Iran mittlerweile bereits über 43 Kilogramm an Uran verfügen, das auf 60 Prozent angereichert wurde.
Laut dem Washingtoner Nichtregierungsinstitut ISIS, das von einem ehemaligen IAEO-Inspekteur geleitet wird, liege die Ausbruchszeit – die Zeit, die ein Staat benötigt, um ausreichend waffenfähiges Uran für den Bau einer einzelnen Atombombe produzieren zu können – bereits bei null. Iran hätte also bereits genügend Material für den Bau einer Bombe und müsste es nur noch auf neunzig Prozent anreichern.
Hat man das Material, so hat man noch nicht gleich eine Atombombe. Es muss eine Kettenreaktion in Gang gesetzt werden, und zwar durch die Verdichtung des Urans zur sogenannten kritischen Masse. Damit dies geschehen kann, muss man das Uran in Kugelform mit Sprengstoff umgeben. Laut IAEO-Bericht soll Iran bereits Baupläne für einen derart präzisen Zündmechanismus besitzen.
Im Vorfeld des Syrien-Gipfels in Teheran sagte ein hochrangiger Berater des Obersten iranischen Führers Ali Chamenei, Iran sei technisch in der Lage, eine Atombombe herzustellen, aber es sei noch keine politische Entscheidung über eine solche Option getroffen worden: "So schnell wie Iran die Anreicherung von Uran von 20 auf 60 Prozent angehoben hat, könnte man auch weiter auf 90 Prozent anreichern."
Seit dem Ukraine-Krieg zeigt Moskau weniger Interesse an einer Wiederbelebung des Atomabkommens mit Iran, während der Kreml nach Putins Besuch in Teheran eine strategische Partnerschaft mit Iran eingeht. Um die erheblichen Überbestände Irans an angereichertem radioaktivem Material abzubauen, muss dieses exportiert werden. Dafür braucht die Internationale Atomenergiebehörde die Kooperation der Kremlführung, um die erheblichen abgebauten Überbestände angereicherten radioaktiven Materials nach Russland zu überführen.
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