Eine Analyse von Marinko Učur
Nach den jüngsten Untersuchungen der Agentur Ipsos war die Unterstützung der serbischen Bürger für die europäische Integration noch nie so gering: Nur noch 35 Prozent der Befragten stimmen derzeit für einen EU-Beitritt ihres Landes. Dies ist ein Allzeittief, ganz anders als im August letzten Jahres, als die Befürwortung eines gemeinsamen europäischen Wegs noch 57 Prozent betrug. Die Bürger Serbiens durchschauen das europäische "Spiel" und jene Partei, bei der noch vieles unbekannt ist, sodass die Unterstützung für den europäischen Weg einen Rückgang erfuhr. Infolge von ständigem Druck, Drohungen und Auflagen aus Brüssel, den außenpolitischen Kurs der EU bedingungslos zu unterstützen, wird die Skepsis gegenüber der EU noch weiter anwachsen.
Niemand in Serbien kann gegenüber der wachsenden Euroskepsis taub und blind bleiben, die, wie Präsident Aleksandar Vučić kürzlich selbst einräumte, unvorstellbare Ausmaße angenommen habe. Unvorstellbar sind sie aber nur für diejenigen, die seit Jahren als Eurofanatiker keine plausible Antwort auf die Frage finden, warum die serbische Gesellschaft diese Richtung eingeschlagen hat. Für andere, die die Europäische Union immer als exklusiven Club gesehen haben, der nach Amerikas Pfeife tanzt, ist dies jedoch keine große Überraschung.
"Serbien muss sich entscheiden, auf wessen Seite es stehen will", teilte Ursula von der Leyen am Dienstag kaltschnäuzig aus Brüssel mit und zerschmetterte damit jede Hoffnung der serbischen Öffentlichkeit, dass Serbiens Position gegenüber der bisherigen starren und arroganten Haltung der EU und die Vorbehalte Serbiens, Sanktionen gegen Russland zu verhängen, auf Verständnis stoßen. Nach Ansicht Brüssels würde die Verhängung von Sanktionen gegen Russland Serbien eindeutig als "Staat auf dem europäischen Weg" definieren. Dies wurde so faktisch zur Bedingung für die Eröffnung neuer Verhandlungskapitel und weitere Fortschritte Serbiens in Richtung EU-Beitritt.
Wer weiß, wie oft Brüssel Serbien bereits aufforderte, seine wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Russland zu überdenken. Zudem wird die Tatsache kritisiert, dass die Flüge zwischen Moskau und Belgrad weiterhin stattfinden, obwohl der EU-Luftraum für russische Zivilflugzeuge offiziell gesperrt ist. Auch sei Serbien aufgefordert, "jede militärische Zusammenarbeit mit Russland zu beenden", was auch für das russisch-serbische Humanitäre Zentrum in der Stadt Niš im Süden des Landes gelte. Bisher hat Serbien diesem Druck erfolgreich widerstanden.
Die ständigen Erpressungsversuche aus Brüssel, die vage europäische Perspektive, der Krieg in der Ukraine und alles, was Serbien erdulden muss, sind eine zu schwere Last für das serbische Volk geworden. Vergeblich erinnern serbische Beamte von Zeit zu Zeit an die traditionelle serbisch-russische Freundschaft, die Verbindung zweier Völker aus der Vergangenheit und die Tatsache, dass Serbien zu 100 Prozent von russischem Gas abhängig ist. Brüssel verschließt sich den serbischen Argumenten und wiederholt Tag für Tag die Notwendigkeit der Angleichung der staatlichen Rechtsvorschriften an den gegenüber Russland äußerst restriktiven Kurs der EU.
Aus all diesen Gründen wird die serbische Gesellschaft zusätzlich polarisiert und spaltet sich in eine Mehrheit, die jegliche Sanktionen gegen Russland ablehnt, und eine große Minderheit, die sich für eine Beteiligung an den antirussischen Sanktionen ausspricht. Daher ist nicht verwunderlich, dass der Euroskeptizismus so viele Befürworter gewonnen hat und dass die Bürger so misstrauisch gegenüber der sogenannten europäischen Perspektive sind.
Debatten zwischen Befürwortern und Gegnern der Europäischen Union werden oft öffentlich organisiert, und das allgemeine Urteil lautet, dass die Befürworter der europäischen Integration auf zahlreiche Fragen keine Antworten und keine stichhaltigen Argumente haben. Gleichzeitig wird all jenen, die der Europäischen Union – einem Projekt, das eine ernsthafte Versuchung darstellt – misstrauisch gegenüberstehen, angesichts der mangelnden Bereitschaft, die Balkanstaaten in den eventuellen Erweiterungsprozess einzubeziehen, unterstellt, sie seien prorussisch oder Anhänger des russischen Präsidenten Putin.
Die Verbindung zwischen dem russischen und dem serbischen Volk, die in unterschiedlichen historischen Wendepunkten und Krisen traditionell immer auf derselben Seite standen, ist unbestreitbar. Vor der jüngsten Aufwallung von Unzufriedenheit mit der Europäischen Union und den täglichen Erpressungen aus Brüssel wird jedoch versucht, diese Verbindung als ausschlaggebend für die weitere europäische Integration anzusehen, obwohl die Haltung Belgrads diesbezüglich sehr deutlich ist:
"Serbien, geleitet von seinen eigenen Interessen, verfolgt weder eine prorussische noch proeuropäische, sondern eine proserbische Politik!"
Im Gespräch mit einem Journalisten beklagte sich Präsident Vučić kürzlich, dass das Kapitel 31 (Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik) der Beitrittsverhandlungen mit seinem Land noch nicht eröffnet wurde, weil
"'Einige' dachten, wir seien darauf nicht vorbereitet, und heute fordern sie von unserem Land eine 100-prozentige Einhaltung dieser Politik, für die sie nicht einmal das entsprechende Kapitel eröffnet haben. Jeder möchte, dass wir ein verlängerter Arm von jedem von ihnen sind und dass wir keine eigene Position und Politik vertreten."
Zudem wird Serbien Ende Juni keinen Cluster in den Verhandlungen mit der Europäischen Union eröffnen, da es keine Sanktionen gegen die Russische Föderation verhängt hat. Die serbische Ministerin für europäische Integration, Jadranka Joksimović, bestätigte, dass alles für die Eröffnung von Cluster 3 bereit sei, es dazu jedoch aufgrund der Nichteinhaltung des Regimes restriktiver Maßnahmen der EU nicht kommen werde. Innenminister Aleksandar Vulin sagte anlässlich der jüngsten Annahme des Berichts über Serbien durch den Außenpolitischen Ausschuss des Europäischen Parlaments:
"Serbien auffordern, Sanktionen gegen Russland zu verhängen und den selbsternannten Staat Kosovo anzuerkennen, und das alles mit derselben Resolution, kann nur jemand, der nichts über Serbien weiß, der arrogant oder Mitglied des Europäischen Parlaments, oder alles dreis ist."
Und weiter:
"Ich weiß gar nicht, wie ich verstehen soll, dass von Serbien mehr Medienpluralismus und gleichzeitig ein Verbot von Medien gefordert wird, deren Gründer aus Russland stammen, weil sie angeblich russische Propaganda betreiben."
Obwohl nicht ohne Bedenken, hat Serbien die Ankündigung recht gelassen genommen, dass der serbische Ölkonzern (NIS), der sich in russischem Besitz befindet, aufgrund der westlichen Sanktionen gegen Russland nach dem neuen, sechsten EU-Sanktionspaket nicht mit Rohöl über die Adria-Erdölleitung (JANAF) versorgt werden kann.
Die Erklärung der staatlichen Energieregulierungsbehörde zeigt, dass Serbien das meiste Rohöl, etwa 45 Prozent, aus dem Irak importiert, aus Kasachstan weitere rund 10 Prozent, während knapp 15 Prozent des Ölbedarfs des Landes aus Russland nach Serbien eingeführt werden. Serbien deckt etwa ein Viertel oder 26 Prozent seines Bedarfs aus heimischer Produktion.
Das mag die Erklärung für diese auf den ersten Blick vorhandene Gleichgültigkeit sein, denn beim zweitwichtigsten Energieträger Gas ist Serbien immer noch vollkommen von russischem Gas abhängig, das es in den kommenden Jahren zu wesentlich besseren Konditionen als den Marktpreisen bekommen wird. Das versprach der russische Staatschef Wladimir Putin dem serbischen Präsidenten in einem kürzlich geführten Gespräch.
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