Es kam wenig überraschend und war für manche doch ein Schock: Für alle, die noch an die Angaben der derzeitigen britischen Regierung, ein menschenrechtsorientierter Staat zu sein, der Werte wie Pressefreiheit für wichtiger erachtet als eigene und die Interessen von Verbündeten, muss es ein harter Schlag sein, dass WikiLeaks-Gründer Julian Assange in seinen ziemlich sicheren Tod ausgeliefert wird.
Sorgsam vorbereitet durch die Einführung neuer Strafbestände, hat das britische Innenministerium unter der Leitung von Priti Patel nun am Donnerstag mitgeteilt, dass Großbritannien die Auslieferung von Assange an die USA genehmigt habe. Die US-Justiz droht seit Jahren, dem WikiLeaks Gründer wegen Spionagevorwürfen den Prozess zu machen. Ihm drohen bei einer Verurteilung bis zu 175 Jahre Haft. Vorgeworfen wird ihm, gemeinsam mit der Whistleblowerin Chelsea Manning geheimes Material von US-Militäreinsätzen im Irak und in Afghanistan gestohlen, veröffentlicht und damit das Leben von US-Informanten in Gefahr gebracht zu haben. Assange drohen in den USA 17 Anklagen wegen Spionage und eine wegen Computermissbrauchs.
Nach Kenntnis der Bundesregierung sei die Entscheidung noch anfechtbar, wie die stellvertretende Regierungssprecherin Christiane Hoffmann am Freitag in Berlin erklärte. Demnach sei das an diesem Freitag ergangene Auslieferungsurteil "noch nicht unanfechtbar, also noch nicht letztinstanzlich", sagte Hoffmann. "Da ist nach jetzigem Kenntnisstand wohl auch noch ein weiterer Rechtsweg möglich."
Zunächst hatte sie sich auf Anfrage eines Journalisten nach der Bewertung des Falls jedoch auf eine Notwendigkeit der Abwägung von unterschiedlichen Schutzgütern bezogen, bei der Meinungs- und Pressefreiheit den Fragen des staatlichen Geheimschutzes gegenüberstehen.
Auf die Frage, warum sich die Bundesregierung nie für die Freilassung Assanges eingesetzt habe und ob die Sprecherin es ernst gemeint habe, dass zwischen Pressefreiheit und der Veröffentlichung von Kriegsverbrechen abgewogen werden müsse, bezog sich Hoffmann in einer hinsichtlich der Syntax etwas ungewöhnlichen Aussage auf "berechtigte Sicherheitsinteressen", woraufhin der Journalist erneut nachhakte, ob es die Haltung der Bundesregierung sei, dass Kriegsverbrechen berechtigte Sicherheitsinteressen seien, was Hoffmann dann verneinte. Auch die Moderation war offenbar etwas aus dem Takt, die Frage damit aber beendet.
Wenn der Rechtsweg beschritten würde, würde die Bundesregierung diesen "sehr genau beobachten", zitiert die dpa Hoffmann. Darüber hinaus werde die Bundesregierung auch die nun gefällte Entscheidung vor einer detaillierten Bewertung "zunächst einmal anschauen", erklärte sie. Das Urteil sei gerade erst ergangen und müsse noch geprüft werden. Dass es etwas zum Anschauen für die Bundesregierung geben wird, ist jedoch bereits klar.
WikiLeaks kündigte an, die britische Anordnung anzufechten, womit Assanges Anwälte 14 Tage Zeit haben, um Einspruch einzulegen. "Wir sind hier noch nicht am Ende des Weges", sagte Assanges Frau Stella. "Wir werden dagegen ankämpfen." Dem Magazin Declassified sagte sie: "Das ist Kriminalität, getarnt als Prozess."
Rechtsexperten zufolge könnte es noch Monate oder sogar Jahre dauern, bis der Fall abgeschlossen ist. Assanges Anwälte erklärten, sie würden eine neue Klage einreichen. "Wir werden bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Berufung einlegen", kündigte Anwältin Jennifer Robinson an.
Zielstrebiger als die Bundesregierung äußerten sich auch zahlreiche Stimmen aus der Zivilgesellschaft sowie einige deutsche Politiker, etwa Martin Sonneborn und Sahra Wagenknecht:
Der bekannte australische Journalist und Filmemacher John Pilger kritisierte die Genehmigung der Auslieferung Assanges in "ein amerikanisches Höllenloch". Die Berufung werde nun die "politische Verkommenheit der britischen 'Justiz' in Frage stellen", erklärte Pilger und rief dazu auf, die Stimmen zu erheben "wie nie zuvor, oder unser Schweigen trägt zum Tod eines heldenhaften Mannes bei".
Einige Medien verwiesen darauf, dass George W. Bush, der republikanische US-Präsident, unter dessen Oberkommando die von Assange aufgedeckten Kriegsverbrechen stattgefunden hatten, genau null Tage Freiheitsentzug erhält, während Assange 175 Jahre Gefängnis erwarten – nachdem er bereits 1.163 Tage in britischen Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh zubringen musste. Die Schriftstellervereinigung PEN, deren deutsches Zentrum Assange kürzlich als Ehrenmitglied aufgenommen hatte, verurteilte die Auslieferung ebenfalls.
Clare Daly, die für ihre kritischen Äußerungen bekannte irische Europaabgeordnete, bezeichnete die Ausweisung als "schreckliche Nachricht", mit man aber gerechnet habe. "Eine Innenministerin, die eine dreiste, sadistische Politik verfolgt, indem sie Asylbewerber nach Ruanda schickt, wird die Auslieferung von Assange wohl kaum blockieren."
Die britische Pressefreiheit erleide einen weiteren Schlag, und die Tortur gehe weiter, schrieb Daly. Laut der Freedom of the Press Foundation (Stifung für Pressefreieheit) sollte jeder, dem die Pressefreiheit am Herzen liegt, diesen Fall verurteilen und das Justizministerium auffordern, die Anklage fallen zu lassen.
Auch Ex-Labour-Chef Jeremy Corbyn ließ erneut jene Haltung durchblicken, die ihn seinen Posten gekostet haben könnte. Die Entscheidung der Innenministerin über die Auslieferung Assanges an die USA sei "völlig falsch und markiert einen sehr dunklen Tag für die Pressefreiheit und das Justizsystem. Wir werden weiter für die Freilassung von Julian Assange kämpfen", so Corbyn.
Selbst der BBC-Journalist John Simpson machte darauf aufmerksam, dass Journalisten in Großbritannien und anderswo durch die Entscheidung, Assange an die USA auszuliefern, sehr beunruhigt sein werden – sowohl wegen dessen Wohlergehen als auch wegen des Präzedenzfalls, der dadurch für den Journalismus weltweit geschaffen wird.
Ähnlich äußerte sich Agnès Callamard für Amnesty International: "Die Auslieferung von Julian Assange an die USA würde ihn in große Gefahr bringen und eine abschreckende Botschaft an Journalisten auf der ganzen Welt senden."
Der französische Linksaußenpolitiker Jean-Luc Mélenchon versprach gar, Assange einzubürgern und mit einem Orden auszustatten, wenn er Premierminister werde.
Silkie Carlo, Direktor der Bürgerrechtsgruppe Big Brother Watch, sagte, die Komplizenschaft der britischen Regierung bei der politischen Verfolgung eines Journalisten, nur weil er unbequeme Wahrheiten an die Öffentlichkeit gebracht hat, sei "entsetzlich, falsch und beschämt unser Land".
Nach Ansicht von Assanges Unterstützern handelte er als Journalist im öffentlichen Interesse und hat somit Anspruch auf den Schutz der Meinungsfreiheit durch den ersten Verfassungszusatz. Sie argumentieren, dass der Fall politisch motiviert ist, dass ihm eine unmenschliche Behandlung droht und dass er in den USA keinen fairen Prozess bekommen würde.
Anwältin Robinson forderte US-Präsident Joe Biden auf, die während der Präsidentschaft von Donald Trump gegen Assange erhobenen Anklagen fallen zu lassen, da sie eine "ernste Bedrohung" für die Presse- und Meinungsfreiheit darstellten.
Stella Assange betonte: "Julian hat nichts falsch gemacht. Er hat kein Verbrechen begangen und ist kein Krimineller. Er ist Journalist und Verleger, und er wird dafür bestraft, dass er seine Arbeit macht."
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