von Alexei Sakwassin und Jelisaweta Komarowa
London wird den ukrainischen Streitkräften M270-Raketenwerfer und passende Munition übergeben. Das Verteidigungsministerium Großbritanniens erklärte, der Beschluss zur Lieferung dieses MLRS [M270: Multiple Launch Rocket System Mehrfachraketenwerfer-Artilleriesystem auf Kettenfahrgestell] sei in enger Abstimmung mit den USA gefasst worden, die der Ukraine auch HIMARS-Systeme [M142: High Mobility Artillery Rocket System] mit ähnlichen Funktionen liefern werden. Russland warnte allerdings, dass die Verfügbarkeit ausländischer Mehrfachraketenwerfer-Artilleriesysteme bei den ukrainischen Streitkräften sehr wahrscheinlich dazu führen könne, dass das Kiewer Regime mit Angriffen auf Objekte zu rechnen habe, die bislang nicht im Visier der russischen Streitkräfte standen. Nach Ansicht von Experten zeigt der Westen einmal mehr seine gleichgültige Haltung gegenüber der Ukraine, die nur als Instrument im Kampf des Westens gegen Russland missbraucht wird.
In ebendiesem Sinne gab auch der britische Verteidigungsminister Ben Wallace bekannt, dass die Ukraine zur Abwehr einer "russischen Aggression" M270-Raketenwerfersysteme MLRS und deren M31A1-Munition aus London erhalten werde, und zwar unentgeltlich. Dies ist auf der Webseite des britischen Verteidigungsministeriums zu lesen.
"Vor dem Hintergrund, dass Russland seine Taktik wechselt, muss sich auch die Unterstützung, die wir der Ukraine gewähren, ändern. Diese leistungsstarken Mehrfachraketenwerfer werden unseren ukrainischen Freunden erlauben, sich besser gegen den brutalen Artilleriebeschuss aus großer Entfernung zu verteidigen", meinte Wallace.
Wie das britische Verteidigungsministerium erklärte, wurde die Entscheidung zur Übergabe des M270 als Antwort auf das Anliegen Kiews getroffen, Präzisionswaffen mit großer Reichweite zu bekommen.
"Das Vereinigte Königreich wird die Ukraine weiterhin unterstützen, damit das Land alles Notwendige hat, um sich gegen die brutale 'russische Aggression' zu verteidigen", heißt es auf der Webseite des britischen Verteidigungsministeriums.
Die Übergabe der M270-Systeme an die ukrainischen Streitkräfte wurde Präsident Selenskij vom britischen Premierminister Boris Johnson am 6. Juni telefonisch angekündigt.
Einer Erklärung der britischen Regierung zufolge versprach Johnson gegenüber Selenskij "bedeutende Unterstützungsmaßnahmen, die von der britischen Regierung zugunsten der Ukraine erbracht werden und zu denen auch Langstrecken-Mehrfachraketenwerfer für Angriffe auf russische Artilleriestellungen gehören".
Dabei gibt London allerdings nicht die genaue Anzahl der MLRS bekannt, die die ukrainischen Streitkräfte erhalten sollen. Nach Vermutungen westlicher Medien geht es um eine eher unbedeutende Anzahl von MLRS. Laut BBC würden die ukrainischen Truppen nur drei dieser Kettenkampffahrzeuge erhalten. Wie britische Militärexperten bemerken, gibt es im Prinzip gar nicht sehr viele M270 im britischen Arsenal, die an Kiew geliefert werden könnten.
Leere Versprechungen
Das MLRS ist ein Erzeugnis des US-Unternehmens Lockheed Martin. Das System wurde in den 1970er Jahren entwickelt, um den sowjetischen Mehrfachraketenwerfern etwas entgegenzusetzen. Die britischen Streitkräfte sind heute mit der Variante M270B1 und der Munition M31A1 ausgerüstet, mit denen Ziele in einer Reichweite von über 70 km bekämpft werden können.
Für das Anpeilen feindlicher Ziele nutzt das MLRS das GPS-Satellitennavigationssystem. Eine Mannschaft aus drei Soldaten ist in der gepanzerten Hülle untergebracht. Gemäss dem britischen Verteidigungsministerium sind die Hauptvorteile des Typs M270B1 dessen hohe Zuverlässigkeit und Manövrierfähigkeit.
London macht kein Geheimnis daraus, dass die Entscheidung zur Übergabe von einigen MLRS an die ukrainische Armee mit ähnlichen Maßnahmen der Vereinigten Staaten koordiniert wurde.
"Die britische Entscheidung war eng mit der Entscheidung der USA abgestimmt, der Ukraine eine hochmobile Version des MLRS (HIMARS) zu schenken", teilten die britischen Militärbehörden mit.
Es sei daran erinnert, dass der US-Präsident Joe Biden am 1. Juni öffentlich ankündigte, die Ukraine werde HIMARS erhalten. Die Entscheidung erfolgt im Rahmen des 11. Militärhilfepakets im Wert von 700 Millionen US-Dollar. Die maximale Reichweite von HIMARS beträgt bis zu etwa 500 km, allerdings werde Kiew nur solche Munition erhalten, mit der Ziele in einer Reichweite von bis zu 80 km getroffen werden können.
Das Training ukrainischen Soldaten für den Umgang mit den M142 HIMARS wird in Europa stattfinden und dürfte etwa drei Wochen beanspruchen.
Im Pentagon wird behauptet, dass die Vereinigten Staaten kein Interesse an einem direkten Konflikt mit Moskau haben, und man betonte deshalb, dass die Lieferung von HIMARS an das Kiewer Regime unter der Bedingung der Nichtanwendung dieser Systeme gegen russisches Territorium erfolge. Formal hat sich Kiew damit einverstanden erklärt. In Russland geht man hingegen davon aus, dass die ukrainische Führung zweifellos HIMARS auch dafür einsetzen werde, um direkt russische Regionen zu treffen.
Generaloberst Michail Misinzew, Leiter des Nationalen Verwaltungszentrums zur Verteidigung der Russischen Föderation, teilte auf einer Pressekonferenz mit, dass Kiew die Stationierung der US-amerikanischen Mehrfachraketenwerfer HIMARS in der Region Sumy an der Grenze zu Russland plane und diese für Provokationen gegen Russland einsetzen wolle.
"In Kürze wird die Anlieferung von weitreichenden Raketenwerfer-Systemen aus den USA nach Schostka [eine Siedlung in der Region Sumy] erwartet, mit deren Hilfe die Kämpfer der ukrainischen bewaffneten Formationen planen, das Grenzgebiet der Russischen Föderation direkt von den Wohngebieten der Stadt aus anzugreifen", sagte Misinzew.
Nach den Worten des Militärs ziele solch ein Angriff darauf ab, Vergeltungsfeuer der russischen Streitkräfte zu provozieren, um anschließend Russland wahllose Angriffe auf zivile Infrastruktur und Zivilisten in der Ukraine vorwerfen zu können.
Das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten Russlands ist ebenfalls der Ansicht, dass die Zusagen des Kiewer Regimes, keine MLRS auf russischem Territorium einzusetzen, nicht glaubwürdig sind. Am 6. Juni bezeichnete Sergei Lawrow, der russische Außenminister, im Gespräch mit Journalisten die Zusicherungen Kiews, keine Schläge gegen Russland zu führen, als "Laberei".
Am 2. Juni äußerte sich die Vertreterin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, in der Sendung Solowjow LIVE in einem ähnlichen Sinne. Ihrer Meinung nach sind solche Versprechen "null und nichtig", und es sei "sinnlos", darüber zu diskutieren.
Auch die Behörden der Volksrepubliken Donezk und Lugansk sind über Angriffe westlicher Raketenabwehrsysteme besorgt. Am 3. Juni erinnerte Leonid Passetschnik, Oberhaupt der LNR, an die Tatsache, dass die ukrainischen Streitkräfte acht Jahre lang ungehindert Zivilisten im Donbass ermordet hätten.
"Die neuen, leistungsstarken amerikanischen MLRS können von Kiew in gleicher Weise für den massiven, zerstörerischen Beschuss unserer Gebiete (DNR und LNR - RT) eingesetzt werden", sagte Passetschnik.
Nikolai Kostikin, ein Experte des Büros für politische und militärische Analysen, kommentierte gegenüber RT, dass die Lieferung von Raketenwerfern aus Großbritannien und den USA an die ukrainische Armee vor allem die Situation für die Zivilbevölkerung in den Grenzregionen zur Ukraine, im Donbass, auf der Krim und in den befreiten Gebieten im Süden der Ukraine verschlechtern kann. Die M142 und der M270 werden dagegen die Situation an der Frontlinie nicht beeinflussen.
"Anhand der vorliegenden Informationen werden die ukrainischen Streitkräfte nur wenige amerikanische und britische Mehrfachraketenwerfer besitzen. Einige Schwierigkeiten können sie [uns] bereiten, doch werden sie das Kräfteverhältnis nicht verändern. Das Schlimmste ist, wenn ukrainische Truppen bewohnte Gebiete mit MLRS beschießen würden", sagte Kostikin.
Der Experte geht davon aus, dass die russische Aufklärung die Bewegungen von M142 und M270 genau beobachten wird. Der Prognose Kostikins zufolge werden die meisten dieser westlichen Systeme von den russischen Streitkräften entweder nach Ankunft in der Ukraine oder spätestens während der Kampfhandlungen im Donbass zerstört werden.
"Unsere Armee verfügt über die technischen Mittel, um diese Systeme aufzuspüren und sie auszuschalten. Eine große Rolle spielt dabei die russische Luftüberlegenheit. Unsere Luftstreitkräfte arbeiten ziemlich erfolgreich. Aber natürlich ist es wünschenswert, die westlichen Mehrfachraketen-Systeme zu eliminieren, bevor sie die Feuerstellungen erreichen", betonte Kostikin.
Warnung vor den Folgen
Die russischen Behörden haben bereits einige Erklärungen zu den möglichen Reaktionen und Folgen der Übergabe von Mehrfachraketenwerfern an das Kiewer Regime abgegeben. So warnte denn auch der russische Präsident Wladimir Putin in einem Interview mit dem Journalisten Pawel Sarubin von Rossija 1, dass Russland dann "Ziele angreifen könnte, die wir noch nicht im Visier haben".
"Ja, aber wenn sie geliefert und stationiert werden, dann ziehen wir daraus die entsprechenden Schlüsse und werden unsere Kampfmittel einsetzen, die wir in ausreichendem Maße haben, um die Ziele zu treffen, die wir noch nicht angreifen", sagte der Staatschef.
In einem Gespräch mit Journalisten am 6. Juni räumte der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses der Staatsduma und ehemalige Leiter der Operativen Hauptabteilung des Generalstabs der russischen Streitkräfte Generaloberst Andrej Kartapolow ein, dass die russische Armee unter Umständen auch Angriffe auf ukrainische Regierungseinrichtungen und Verkehrsinfrastruktur durchführen könnte.
"Der Flughafen von Kiew ist in Betrieb ... Bahnhöfe, Haupteisenbahnlinien, Straßenbrücken und viele andere Dinge ebenfalls, ganz zu schweigen von den Staatsorganen, denn es gab bisher keinen einzigen Angriff auf das ukrainische Verteidigungsministerium, den Generalstab, die Rada oder andere Ministerien, in denen Entscheidungen getroffen und Aufgaben festgelegt werden", wurde Kartapolow von TASS zitiert.
Von RT befragte Experten betrachten das vom Leiter des Verteidigungsausschusses der Staatsduma geäußerte Szenario eines russischen Vergeltungsschlags als "durchaus realistisch".
"Ich denke nicht, dass amerikanische und britische Mehrfachraketenwerfer-Systeme die ukrainischen Streitkräfte erreichen werden. Sollte dies jedoch der Fall sein, wird eine Reihe wichtiger Einrichtungen in der Ukraine zerstört werden. Das Militär der Ukraine arbeitet schon seit Langem in Bunkern. Nun werden es anscheinend alle Beamten tun", sagte Kostikin.
Oleg Nemenski, ein führender Experte des Russischen Instituts für Strategische Studien, sagte gegenüber RT, dass der Westen mit der Lieferung von Mehrfachraketenwerfern an Kiew einmal mehr eine "utilitaristische" und gleichgültige Haltung gegenüber dem letztendlichen Schicksal der Ukraine demonstriere.
"Für die USA und das Vereinigte Königreich ist es uninteressant, wie schwerwiegend die Reaktion Russlands sein wird, wenn es sie nicht direkt selbst betrifft. Mit einer weiteren militärischen Hilfsaktion in Form von Mehrfachraketenwerfer-Systemen und dem Ignorieren von Moskaus Warnungen davor zeigt der kollektive Westen wieder einmal seine wahre Haltung gegenüber der Ukraine als ein Werkzeug im Kampf gegen Russland", schlussfolgerte Nemenski.
Übersetzt aus dem Russischen
Mehr zum Thema - Waffenlieferungen an Kiew: Russland sieht Risiko des direkten Konflikts mit den USA