Eine Analyse von Timofei Bordatschow
Für den Fall, dass der zunehmende Konflikt in und um die Ukraine nicht in naher Zukunft zu irreparablen Folgen von globalem Maßstab führt, wird das wichtigste Ergebnis eine grundlegende Abgrenzung zwischen Russland und den westlich orientierten Staaten Europas sein. Dies wird es unmöglich machen, selbst kleinere neutrale Zonen aufrechtzuerhalten, und wird eine erhebliche Reduzierung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zur Folge haben.
Die Wiederherstellung der Kontrolle über das Territorium der Ukraine, die höchstwahrscheinlich ein langfristiges Ziel der russischen Außenpolitik sein wird, kann das Hauptproblem der regionalen Sicherheit lösen. Die Schaffung dieser "Grauzone" war unweigerlich Gegenstand der aktuellen Konfrontation und ist unter dem Gesichtspunkt einer Eskalation gefährlich. In diesem Sinne kann man langfristig mit einer gewissen Stabilisierung rechnen, die jedoch nicht auf einer Zusammenarbeit zwischen den wichtigsten Regionalmächten beruhen wird. Es zeichnet sich jedoch schon jetzt ab, dass der Weg zum Frieden lang und von äußerst gefährlichen Situationen begleitet sein wird.
Henry Kissinger, der große Patriarch der internationalen Politik, wies in seiner Rede vor den Teilnehmern des WEF in Davos auf eine solche Perspektive hin, die aber aus seiner Sicht die am wenigsten wünschenswerte sei, da sich Russland dann "vollständig von Europa entfremden und eine permanente Allianz anderswo suchen wird", was zu diplomatischen Spaltungen im Ausmaß des Kalten Krieges führen würde.
Friedensgespräche zwischen Moskau und Kiew wären seiner Meinung nach der sinnvollste Weg, um dies zu verhindern und würden dazu führen, dass russische Interessen berücksichtigt werden. Für Kissinger bedeutet dies, dass Russlands Teilnahme am europäischen "Konzert" in gewisser Weise ein unbedingter Wert ist, dessen Verlust verhindert werden muss, solange noch eine Chance dafür besteht. Doch bei allem Respekt vor den Verdiensten und der Weisheit dieses Staatsmannes und Gelehrten steht der tadellosen Logik von Kissinger nur ein Hindernis gegenüber – sie funktioniert, wenn die Machtverhältnisse geklärt sind und die Beziehungen zwischen den Staaten bereits das Stadium eines militärischen Konflikts überschritten haben.
Damit tritt er sicherlich in die Fußstapfen seiner großen Vorgänger – des österreichischen Reichskanzlers Klemens von Metternich und des britischen Außenministers Viscount Castlereagh, deren diplomatische Leistungen 1956 Gegenstand von Kissingers eigener Dissertation waren.
Beide gingen als Schöpfer einer neuen europäischen Ordnung in die Geschichte ein, die nach dem Ende der napoleonischen Ära in Frankreich errichtet wurde und mit geringfügigen Anpassungen fast ein Jahrhundert lang in der internationalen Politik Bestand hatte. Genau wie diese illustren Persönlichkeiten der Geschichte trat Henry Kissinger in einer Ära auf der Weltbühne auf, in der die Machtverhältnisse zwischen den wichtigsten Akteuren bereits von "Eisen und Blut" bestimmt worden waren. Die große Zeit der politischen Erfolge von Kissinger war die erste Hälfte der 1970er-Jahre – eine Zeit relativer Stabilität.
Allerdings darf man nicht übersehen, dass die Fähigkeit von Staaten, sich so zu verhalten, damals nicht auf ihrer Weisheit oder Verantwortung gegenüber künftigen Generationen beruhte, sondern auf viel profaneren Faktoren. Der erste Faktor war die Vollendung der "Kontraktion" der neuen Ordnung, die seine Form als Ergebnis des Zweiten Weltkriegs erhielt. In den kommenden 25 Jahren, also von 1945 bis 1970, wurde dieser Zustand während des Krieges in Korea, der US-Intervention in Vietnam, der Militäraktionen der UdSSR in Ungarn und der Tschechoslowakei sowie mehrerer indirekter Kriege zwischen der UdSSR und den USA im Nahen Osten und der Vollendung des Zerfallsprozesses der europäischen Kolonialreiche sowie einer Vielzahl kleinerer, aber dennoch dramatischer Ereignisse endgültig konsolidiert. Daher fällt es zum jetzigen Zeitpunkt schwer zu erwarten, dass die Diplomatie in der Anfangsphase des aktuellen Prozesses, der sehr langwierig und höchstwahrscheinlich ziemlich blutig sein wird, den ersten Rang einnehmen kann.
Die materielle Grundlage dieser geopolitischen Ordnung nach 1945, die durch Kissingers Politik der Entspannung mit der UdSSR und mit der Aussöhnung mit China 1972 ihren letzten Schliff erhielt, war die strategische Niederlage des größten Teils Europas infolge zweier Weltkriege innerhalb der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Zusammenbruch der europäischen Kolonialreiche und die historische Niederlage Deutschlands bei seinem Versuch, in den Mittelpunkt des Weltgeschehens zu treten, brachten die Vereinigten Staaten in den Vordergrund, wodurch eine wirklich globale Politik ermöglicht wurde. Infolge der Selbstzerstörung der UdSSR erwies sich diese geopolitische Ordnung als kurzlebig. Wir verstehen jetzt, dass dies eine große Tragödie war, weil sie dazu führte, dass das Gleichgewicht der Kräfte zugunsten der Dominanz einer einzelnen Macht verschwand.
Nun können wir davon ausgehen, dass die Emanzipation der Menschheit von der westlichen Dominanz von zentraler Bedeutung und das Wachstum der wirtschaftlichen und politischen Macht Chinas der wichtigste Faktor in diesem Prozess ist. Wenn China selbst, aber auch Indien und andere große Staaten außerhalb des Westens die ihnen von der Geschichte übertragene Aufgabe bewältigen, wird das internationale System in den kommenden Jahrzehnten Züge annehmen, die zuvor völlig untypisch waren.
Die meisten bedeutenden Ereignisse, die jetzt global und regional stattfinden, stehen im Zusammenhang mit dem objektiven Prozess des Bedeutungszuwachses Chinas und – dem folgend – auch anderer asiatischer Länder. Die Entschlossenheit, die Russland in den vergangenen Jahren und vor allem in den vergangenen Monaten gezeigt hat, ist auch mit globalen Veränderungen verbunden. Dass Moskau so zielstrebig für seine Interessen und Werte eingetreten ist, hat nicht nur innenpolitische Gründe, obwohl auch diese von großer Bedeutung sind. Sie beruhten auch nicht auf der Erwartung direkter materieller Hilfe aus China, mit denen Verluste in der akuten Phase des Konflikts kompensiert werden könnten.
Die wichtigste externe Quelle des russischen Selbstvertrauens ist eine objektive Einschätzung des Zustands des internationalen politischen und wirtschaftlichen Umfelds, in dem selbst ein vollständiger Bruch mit dem Westen für Russland – im Hinblick auf die Verfolgung seiner Entwicklungsziele – nicht lebensgefährlich wäre. Darüber hinaus kann sich gerade die Notwendigkeit einer aktiveren Annäherung an andere Partner in einem Umfang, wie es Russland bis vor Kurzem nicht praktiziert hat, als viel zuverlässigerer Weg erweisen, um in einem sich verändernden Umfeld zu überleben.
Das wird in den USA und Europa mit größter Sorge wahrgenommen. Für den Fall, dass Russland in den Jahren der sich abzeichnenden Abkoppelung vom restlichen Europa ein vergleichbares System handelspolitischer, wirtschaftlicher, politischer, kultureller und menschlicher Beziehungen im Süden und Osten schafft, wird die Rückkehr dieses Landes in den westlichen Einflussbereich technisch schwierig, wenn nicht sogar unmöglich werden.
Bisher wird ein solcher Lauf der Dinge durch eine kolossale Anzahl von Faktoren behindert, zu denen in erster Linie die passive Stabilität der engen Interaktion mit dem restlichen Europa und die in den letzten 300 Jahren angesammelten gegenseitigen Beziehungen gehören. Darüber hinaus waren andere europäische Mächte die einzigen ständigen Partner Russlands nach dem Auftritt dieser Nation in der Arena der internationalen Zusammenarbeit.
Sollte sich die akute Phase des Konflikts in der Ukraine jedoch wirklich als sehr langwierig herausstellen, was sich offenbar abzeichnet, dann werden die elementaren Überlebensbedürfnisse Russland dazu zwingen, sich von seiner Bindung an Europa zu lösen. Genau das fordern jene russischen Experten und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die auf jede erdenkliche Weise den existenziellen Charakter der aktuellen Konfrontation betonen, die an Russlands Westgrenze stattfindet. Daher kommt auch die Erkenntnis der USA und ihrer Verbündeten, dass die Bewegung Russlands hin zu einer neuen Weltordnung auf einem festen Fundament steht und ihnen in ihrem Kampf mit dem kollektiven Westen als wichtigste Quelle dient.
Die unvermeidliche Umverteilung von Ressourcen und Macht im globalen Maßstab kann nicht völlig friedlich erfolgen, obwohl die Irrationalität eines Offensivkrieges zwischen den Großmächten angesichts des nuklearen Abschreckungsfaktors uns eine gewisse Hoffnung auf den Erhalt der Menschheit gibt.
Inmitten dieses Kampfes, der jetzt an Dynamik gewinnt, ist Russland – wie das restliche Europa auch – trotz seiner militärischen Fähigkeiten ein Teilnehmer, der den wichtigsten Konfliktparteien – China und den Vereinigten Staaten – an Stärke unterlegen ist. Daher kämpft Russland um Russland selbst und die Chance für den Westen, diesen Kampf zu gewinnen, schwindet. Das ist es, was Henry Kissinger auf dem WEF zu sagen versuchte.
Timofei Bordatschow ist Programmdirektor des Waldai-Klubs. Als Forscher ist er auf internationale Beziehungen und aktuelle Fragen der Weltpolitik sowie auf die russisch-europäischen Beziehungen spezialisiert.
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