Warum die NATO-Russland-Grundakte die bestehenden Probleme nicht gelöst hat

Vor 25 Jahren wurde die NATO-Russland-Grundakte unterzeichnet, die das Fundament für eine neue Beziehung zwischen dem Nordatlantischen Bündnis und Moskau legen sollte. Inzwischen wurde sie von der NATO gekündigt. Aber Experten sagen, das Militärbündnis habe nie die Absicht gehabt, das Dokument von 1997 umzusetzen.

Eine Analyse von Alexej Sakwasin

Vor 25 Jahren, am 27. Mai 1997, wurde auf dem Gipfeltreffen in Paris die "Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der Russischen Föderation und der Nordatlantikvertragsorganisation" unterzeichnet. Der russische Präsident Boris Jelzin, NATO-Generalsekretär Javier Solana und die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten des Bündnisses setzten ihre Unterschriften unter dieses Dokument.

Kernpunkt des NATO-Russland-Vertrages war die Ablehnung jeglicher Form der Konfrontation.

Demnach heißt es in der Vereinbarung:

"Die NATO und Russland betrachten einander nicht als Gegner. Sie verfolgen gemeinsam das Ziel, die Spuren der früheren Konfrontation und Konkurrenz zu beseitigen und das gegenseitige Vertrauen und die Zusammenarbeit zu stärken."

Es wurde die Absicht der Parteien hervorgehoben, eine grundlegend neue Beziehung aufzubauen und "auf der Grundlage gemeinsamen Interesses, der Gegenseitigkeit und der Transparenz eine starke, stabile und dauerhafte Partnerschaft zu entwickeln."

Ebenso proklamierte das Dokument den "Verzicht auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegeneinander oder gegen irgendeinen anderen Staat, seine Souveränität, territoriale Unversehrtheit oder politische Unabhängigkeit" mit allen verfügbaren Mitteln.

In der Grundakte wurde nicht ausdrücklich festgelegt, dass die NATO eine Osterweiterung ablehnt, doch die Allianz gab Moskau Garantien, dass sie keine Atomwaffen auf dem Gebiet der neuen Mitglieder stationieren würde.

Gegenwärtig werden die Bestimmungen der Grundakte von der Allianz nicht mehr eingehalten – die NATO hat sie am 25. Februar 2022 gekündigt, am Folgetag nach Beginn der Sonderoperation der Streitkräfte Russlands in der Ukraine. Moskau hat seinerseits allerdings keinen ähnlichen Schritt unternommen.

Dabei sei die Haltung der NATO prinzipiell ohne Respekt vor dem Dokument von 1997 gewesen, so der stellvertretende russische Außenminister Sergei Rjabkow. Er betonte:

"Der Westen verhielt sich dem Dokument gegenüber von Anfang an nachlässig, es war wahrhaftig a priori ein Feigenblatt, das einen völlig anderen Inhalt der NATO-Politik in Richtung Osten, im weitesten Sinne des Wortes, kaschierte."

Die scharfen Kanten glätten

Die Unterzeichnung der NATO-Russland-Grundakte fand vor dem Hintergrund der damals noch bestehenden Annäherung zwischen Moskau und dem Westen statt. Beispielsweise wurde die Politik der Reduktion der Arsenale und der Zahl der Streitkräfte seitens der Allianz und der Russischen Föderation in dem Dokument positiv bewertet.

In dieser positiven Atmosphäre fand am 4. Dezember 1997 in Brüssel das erste Treffen zwischen Generaloberst Anatoli Kwaschnin, dem Generalstabschef der russischen Streitkräfte, und der Führung des NATO-Blocks statt. Am 18. März 1998 etablierte Russland offiziell eine permanente Vertretung bei der NATO. Deren Büro hatte ihren Sitz in Brüssel, wo sich auch der Hauptsitz der Allianz befindet.

Sergei Jermakow, ein führender Experte des Russian Institute for Strategic Studies (RISS), bemerkte in einem Kommentar gegenüber RT, der Inhalt der Grundakte sei dem Interesse beider Seiten gerecht geworden. Leider habe die spätere Politik der NATO die verankerten Errungenschaften im Bereich der internationalen Sicherheit durchkreuzt. Er sagte:

"Mitte der 1990er Jahre gab es sowohl in Russland als auch in der Allianz Kräfte, die ein System der friedlichen, nicht konfrontativen Koexistenz zwischen dem Westen und Russland vorantrieben. Letztendlich haben aber diejenigen in der Allianz die Oberhand gewonnen, deren Ansicht es war die Russische Föderation als Verlierer des Kalten Krieges anzusehen und deshalb keine Rücksicht auf ihre Interessen zu nehmen bzw. gleichberechtigte Beziehungen mit ihr aufzubauen."

Bereits zwei Jahre später hatten sich die Beziehungen zwischen Moskau und der NATO deutlich verschlechtert. Im Jahr 1999 kam es zu einer raschen Expansion der Allianz mit der Aufnahme der ehemaligen Warschauer-Pakt-Länder Ungarn, Polen und der Tschechischen Republik.

Im selben Jahr begann der NATO-Block seine Aggression gegen Jugoslawien, ohne dass eine Resolution des UN-Sicherheitsrates vorlag. Am 24. März 1999, dem ersten Tag der militärischen Operation auf dem Balkan, rief Jelzin den ständigen Vertreter Russlands bei der NATO aus Brüssel zurück. Zwei Tage später wurden Alexei Schachtachtinski, der Vertreter des Kontaktbüros der Allianz in Moskau, und Manfred Diehl, der Informationsberater der NATO, aus Moskau ausgewiesen. Darüber hinaus sagte Russland seine Teilnahme am Jubiläumsgipfel der Gruppe in Washington ab.

Ehrlich gesagt begannen sich die Beziehungen mit dem Nordatlantischen Bündnis schnell zu erholen. Bereits im Februar 2000 reiste der neue NATO-Generalsekretär George Robertson zu einem Arbeitsbesuch nach Russland.

Nichtsdestotrotz, glaubt Jermakow, hat die NATO-Aggression gegen Jugoslawien die Einstellung der russischen politischen Elite bezüglich einer Kooperation mit der NATO verändert. Zumal die Militäroperation der Allianz einen Verstoß gegen den in der Grundakte verankerten Verzicht auf die Anwendung von Gewalt gegen "irgendeinen anderen Staat, seine Souveränität, territoriale Unversehrtheit oder politische Unabhängigkeit" darstellte.

Jermakows Einschätzung diesbezüglich lautete:

"Vom russischen Standpunkt aus betrachtet, hat die Aggression der NATO in Jugoslawien den endgültigen Sieg der Befürworter westlicher Hegemonie, genauer gesagt, der US-Hegemonie, demonstriert. Washington und seine Verbündeten gaben zu verstehen, dass sie bereit sind, genau wie zuvor, Probleme mit militärischer Gewalt zu lösen. Selbstverständlich hat Russland daraus seine Schlussfolgerungen gezogen."

Seiner Meinung nach zeigte sich der positive Nutzen aus der Grundakte in einer Art Erholungspause für Russland, vor einer weiteren Runde der großen Konfrontation mit der NATO, die im Jahr 2014 begann. Der Analyst erläuterte:

"Die Grundakte rundete die scharfen Kanten in den Beziehungen zur NATO bis zu einem gewissen Grad ab. Dank dieser Entwicklung hatte Russland Zeit für eine wirtschaftliche Revitalisierung und den Aufbau einer neuen Generation von Streitkräften."

Von der Raketenabwehr zur Ukraine

Den Experten zufolge kam es im 21. Jahrhundert zu mehreren Krisen in den Beziehungen zwischen Moskau und der NATO. Deren Hauptursache lag in den Vereinigten Staaten, die die europäische Infrastruktur der NATO nutzten, um den militärischen Druck auf Russland zu erhöhen.

Nach den Ereignissen in Jugoslawien stellte die Revision des Systems zur Rüstungskontrolle eine ernsthafte Bewährungsprobe für die Grundakte dar. Die ersten Schritte dazu waren nach Ansicht der Experten der Ausstieg Washingtons aus dem ABM-Vertrag im Jahr 2002 und die Einleitung des Programms für ein globales Raketenabwehrsystem.

Hitzige Debatten gab es zwischen Moskau und Washington zudem über die Pläne der USA, einige Anlagen in Osteuropa zu stationieren. Inoffiziell wurde das Projekt Euro-ABM genannt.

Washington behauptete, dass die Systemelemente der Raketenabwehr in Europa nicht gegen Russland gerichtet seien. Doch Moskau wiederholte mehrmals, dass der wahre Zweck der Entwicklung des amerikanischen ABM-Systems darin bestehe, die Möglichkeiten der strategischen Streitkräfte Russlands einzuschränken. Darüber hinaus verfügen die in Polen und Rumänien stationierten landgestützten Aegis-Ashore-Raketenabwehrsysteme über offensive Kapazitäten und sind in der Lage, Tomahawk-Marschflugkörper abzufeuern.

In einem Interview mit der US-amerikanischen NBC-Journalistin Megyn Kelly im Jahr 2018 sagte der russische Präsident Wladimir Putin, die USA hätten alle Vorschläge Russlands zur Regulierung der Situation bezüglich der Raketenabwehr abgelehnt und weigerten sich die Anliegen Moskaus zu berücksichtigen. Der Präsident unterstrich:

"Wir haben stets davon gesprochen, dass die Entwicklung eines Raketenabwehrsystems eine Bedrohung für uns darstellt, wir haben immer darüber gesprochen."

Infolgedessen, so der russische Staatschef, habe das Vorgehen der Amerikaner ein Wettrüsten ausgelöst. Angesichts dieser Situation war Russland gezwungen ein System zur Niederwerfung des US-Raketenabwehrsystems zu entwickeln.

Auch wurden die Beziehungen Russlands zur NATO durch den Ausstieg Washingtons aus dem INF-Vertrag stark belastet. Das Abkommen war im Dezember 1987 unterzeichnet worden. Seine Implementierung befreite Europa von der Gefahr eines nuklearen Angriffs mit landgestützten Raketen, deren Reichweite 500 bis 5.500 km beträgt.

Allerdings zogen sich die Vereinigten Staaten im August 2019 aus dem IRNFT zurück, wodurch sie in der Folge eine legale Möglichkeit erhielten, neue Typen von Bodenwaffen zu entwickeln und diese auf dem Gebiet ihrer europäischen NATO-Verbündeten einzusetzen.

Moskau betrachtete die IRNFT als die Basis der europäischen Sicherheit, sah sich jedoch nach den USA auch zum Rückzug daraus veranlasst. Trotzdem befolgt Russland nach wie vor ein einseitiges Moratorium für die Stationierung zuvor verbotener Raketen.

Besonders negative Folgen für die internationale Stabilität und Sicherheit Russlands hatte die NATO-Politik bezüglich der Ukraine. Der Einfluss der Allianz und insbesondere der USA auf das osteuropäische Land wurde durch den Staatsstreich von 2014 gestärkt.

Die NATO hat die Beziehungen zu Moskau praktisch auf Eis gelegt, und einzelne Länder des Blocks fingen an militärische Hilfe für die Ukraine zu leisten. Kurz vor Beginn der Sonderoperation haben die Mitglieder des Bündnisses (hauptsächlich die USA und das Vereinigte Königreich) ihre Lieferungen von letalen Waffen an die Streitkräfte der Ukraine deutlich erhöht. Große Ladungen westlicher Waffen, darunter auch schweres Geschütz, treffen auch heute noch in der Ukraine ein. Sergei Jermakow erinnerte:

"Die Allianz hat die Ukraine sukzessive auf eine Rolle als antirussischer militärischer Vorposten vorbereitet und rüstet sie heute aktiv auf. Die Chance auf einen Kompromiss bestand in diesem Winter bei den Sicherheitsgesprächen, doch Russlands Meinung wurde erneut ignoriert."

Alexei Fenenko, außerordentlicher Professor an der Lomonossow-Universität Moskau und Doktor der Geschichtswissenschaften, erklärte im Gespräch mit RT, dass die NATO einen gleichberechtigten Dialog mit Moskau gar nicht angestrebt habe und stets eine existenzielle Bedrohung für Russland gewesen sei. Er räsonierte:

"Die Situation in der Ukraine hat den antirussischen Charakter des Bündnisses zutage treten lassen, doch er war schon immer so. Für die NATO ist die Existenz eines souveränen und starken Russlands nicht förderlich. Für unser Land war der westliche Block in allen Zeiten ein feindliches Gebilde. Da sollten keine Illusionen bestehen."

Seiner Meinung nach ist die Konfrontation zwischen Moskau und der NATO auf objektive geopolitische Faktoren zurückzuführen. Dennoch sind beide Seiten daran interessiert, dass diese Rivalität bestimmte Grenzen nicht überschreitet und sich im Rahmen einer "kontrollierten Konfrontation" bewegt. Fenenko kam zu dem Schluss:

"Die NATO ist sich, glaube ich, der Folgen einer offenen militärischen Beteiligung an demselben Konflikt in der Ukraine bewusst. Viele reden jetzt von der Notwendigkeit, die Beziehungen zu dem Bündnis zu stabilisieren, aber meiner Meinung nach kann der Schlüssel dazu nur in einer weiteren militärischen und wirtschaftlichen Stärkung Russlands liegen."

Übersetzt aus dem Russischen.

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