von Seyed Alireza Mousavi
Inmitten des Ukraine-Krieges wollen nun Finnland und Schweden auf Drängen der USA NATO-Mitglieder werden. Schwedens regierende Sozialdemokraten stimmten am Sonntagabend für den NATO-Beitritt ihres Landes. Am Montag diskutiert das Parlament in Stockholm über einen Aufnahmeantrag, und im Anschluss soll das Kabinett zusammenkommen.
Die Nordatlantische Militärallianz NATO entwickelt sich im Zuge des Ukraine-Krieges vom einer Hirntoten zu einer Wiedergeborenen. Dass der französische Präsident Emmanuel Macron der NATO im Jahr 2019 den "Hirntod" bescheinigte, hing mit dem türkischen Einmarsch in Nordsyrien sowie dem ungeplanten Abzug der US-Truppen aus der Levante zusammen. Beides war damals nicht mit den anderen NATO-Verbündeten abgesprochen worden.
Der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdoğan, äußerte sich am Freitag kritisch über einen möglichen NATO-Beitritt von Finnland und Schweden. "Derzeit beobachten wir die Entwicklungen bezüglich Schwedens und Finnlands, aber wir haben keine positive Meinung dazu", sagte Erdoğan. Die beiden skandinavische Länder seien geradezu "Gasthäuser für Terrororganisationen" wie die verbotene kurdische PKK, hieß es aus Ankara. Der türkische Außenminister, Mevlüt Çavuşoğlu, legte am Sonntag in Berlin noch einmal nach, indem er Schweden und Finnland vorhielt, "Terrororganisationen" wie die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und die Kurdenmiliz YPG "offen" zu unterstützen.
Zugleich kamen aber auch Entspannungs-Signale aus der Türkei. So ließ Erdoğan verlautbaren, dass er trotz der türkischen Kritik die Tür für die skandinavischen Staaten nicht verschließe.
Bei einem Treffen der Außenminister der 30 Bündnisstaaten in Berlin kritisierte Ankara zudem, dass mehrere Länder wegen des türkischen Kampfes gegen YPG und PKK die Lieferung von Rüstungsgütern an die Türkei eingeschränkt haben. Aufgrund dieser Äußerung glauben viele Beobachter, dass die Türkei den Konflikt mit der PKK nur als vorgeschobenes Argument nutzt, um mit dem wichtigsten NATO-Verbündeten das Thema Waffenlieferungen neu auszuhandeln. Mit anderen Worten: Schweden und Finnland sind für Ankara lediglich der politische Hebel, um Druck auf die USA auszuüben und erneute Waffenlieferungen zu erreichen.
Die USA verhandeln mit der Türkei aktuell über die Lieferung von F-16-Kampfflugzeugen, nachdem das Land zuvor aus dem F-35-Programm ausgeschlossen worden war. Allerdings gibt es im Kongress einigen Widerstand dagegen. Nun versucht Erdoğan offenbar, diesen Widerstand zu brechen. Die USA hatten die Türkei von der Lieferung der Kampfjets F-35 ausgeschlossen und Sanktionen gegen die türkische Waffenbeschaffung verhängt, nachdem Ankara im Jahr 2019 trotz Protesten aus Washington das russische Flugabwehrsystem S-400 gekauft hatte. Trumps Hauptbefürchtung war damals, dass eine scharfe Reaktion der USA die Türkei dazu bringen könnte, die NATO zu verlassen und ein Militärbündnis mit Russland zu schmieden.
Die Türkei wird jetzt wohl von USA fordern, wieder am F-35-Programm beteiligt zu werden, und im Austausch dafür den Weg für die Aufnahme der beiden skandinavischen Ländern in die NATO freimachen.
Falls das Land am Bosporus von seinem Veto gegen einen NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands nicht Gebrauch machen sollte, besteht allerdings die Gefahr, dass Ankara es sich mit der Kremlführung verdirbt. Und dass es seine Vermittlungsrolle zwischen der Ukraine und Russland aufs Spiel setzt. Die Türkei hatte sich bislang bemüht, ihre Position in der Region als Vermittelter zwischen Kiew und Moskau bzw. zwischen Washington und Moskau zu stärken, und vor allem, angemessene Beziehungen zum Kreml aufrechtzuerhalten.
Wenn der NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens dadurch ermöglicht werden sollte, dass die Türkei grünes Licht gibt, wird also einerseits Erdoğans Vermittlerrolle gefährdet. Und andererseits dürfte der Ukraine-Konflikt noch weiter eskalieren. Sollte sich der Krieg in der Ukraine wider Erwarten über längere Zeit hinziehen, dann ginge die Türkei auf der geopolitischen Ebene als Verliererin aus diesem Krieg hervor. Denn schließlich dürfte das Land am Bosporus kein Interesse daran haben, dass aus dem Ukraine-Krieg zum Beispiel eine Konfliktzone wird, die das gesamte Schwarze Meer erfasst.
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