Eine Analyse von Maxim Sokolov
Der Hohepriester von Rom hat der Zeitung Corriere della Sera ein Interview gegeben, das eine Reihe von unerwarteten Bemerkungen enthält. Papst Franziskus erklärte sich bereit, nach Moskau zu reisen, um Putin zu treffen und zur Lösung der ukrainischen Situation beizutragen. Die Bereitschaft, nach Kiew zu gehen, zeigte er jedoch nicht. Er machte deutlich, dass er "noch nicht das Bedürfnis verspürt, dorthin zu gehen".
Gerade die letzte Aussage ist zumindest undiplomatisch, um nicht zu sagen skandalös. Nach Kiew, zu Wladimir Selenskij, drängen sich die vornehmsten Vertreter der angelsächsischen Elite, ohne Rücksicht auf die Schwierigkeiten des Weges, darunter Boris Johnson, Antony Blinken, Nancy Pelosi, US-Kriegsminister Lloyd Austin und deren loyale osteuropäische Klienten. Die Verbeugung vor Selenskij wird als eine Frage der Ehre, des Ruhms, der Tapferkeit und des Heldentums angesehen. Vor diesem Hintergrund wirkt der Standpunkt des Oberhauptes der westlichen Kirche wie regelrechte Dissidenz.
Und wenn dabei der Papst auch noch bereit ist, nach Moskau zu reisen, wird alles nur noch seltsamer. Wie es aussieht, hat er mit dem Helden der freien Welt nichts zu besprechen, dafür aber mit demjenigen, der der freien Welt als "Antichrist" gilt, eine Menge. Da kann man glatt vom Glauben abfallen.
Aber selbst das ist noch nicht alles. Über die Ursachen der Krise sprechend, mutmaßte der Papst: "Wahrscheinlich hat das Bellen der NATO an Russlands Tür (l'abbaiare della NATO alla porta della Russia) zu einer Reaktion des Kremls geführt. Der Zorn, ich weiß nicht, ob er provoziert wurde, aber vermutlich hat er dazu beigetragen." Gemeint ist: beigetragen zum Beginn der russischen militärischen Kampagne. Im Allgemeinen bellen aggressive Tiere. Eine "schöne" Meinung über die Allianz der demokratischen Staaten.
Daraus folgt noch nicht, dass der Vatikan sich eindeutig für die Position Moskaus ausspricht. Zumal sich die vatikanische Kurie intern in dieser akuten – wenn nicht sogar der akutesten – Frage kaum in moralischer und politischer Hinsicht einer Meinung ist. Allein das polnische Bistum legt davon Zeugnis ab.
Dennoch bedeutet dies, dass der Papst nicht bereit ist, eine eindeutig proukrainische Position einzunehmen, indem er sich mit Selenskij, Dmitri Kuleba, Alexei Arestowitsch usw. ganz und gar solidarisch zeigt. Im Unterschied zu den Oberhäuptern des Westens und den Medien im Westen, die eine solch vorbehaltlose Position einnehmen.
Vielleicht liegt das an der Tatsache, dass der Vatikan sich an das schwere Trauma des Zweiten Weltkriegs erinnert. Damals stellten sich die katholischen Prälaten der Ukraine (Unierte) und Kroatiens voll und ganz (oder nahezu voll und ganz, mit kleinen Vorbehalten, die nichts am Kern der Sache ändern) auf die Seite der Bandera-Nationalisten und Ustaschas, sie deckten nicht nur deren Taten – und das waren satanische Taten – sondern sie begrüßten sie sogar regelrecht. Papst Pius XII. seinerseits schwieg angesichts dessen, was die guten Katholiken und ihre Pastoren taten.
Am 1. Juli 1941, dem Tag nach der Einnahme von Lwow durch die Deutschen, wandte sich Metropolit Andrei Scheptizki, Oberhaupt der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche, an die Gemeinde: "Wir grüßen die siegreiche deutsche Armee, die uns vom Feind befreit hat." Zu dieser Zeit fand in Lwow ein Pogrom statt, das von außergewöhnlichen Gräueltaten begleitet war.
Am 23. September 1941, nach der Einnahme von Kiew durch die Deutschen, schrieb der Kirchenfürst an Hitler:
"Als Oberhaupt der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche übermittle ich Eurer Exzellenz meine herzlichsten Glückwünsche zur Einnahme der Hauptstadt der Ukraine. Die Aufgabe der Vernichtung und Ausrottung des Bolschewismus, die Sie sich als Führer des großen Deutschen Reiches in diesem Feldzug zum Ziel gesetzt haben, sichert Ihrer Exzellenz die Dankbarkeit der gesamten christlichen Welt. Die UGCC ist sich der wahren Bedeutung der mächtigen Bewegung des deutschen Volkes unter Ihrer Führung bewusst. Ich werde für den Sieg zu Gott beten, der Eurer Exzellenz, der deutschen Armee und der deutschen Nation einen dauerhaften Frieden sichern wird."
Am 15. Oktober 1941 verurteilte Scheptizki die "jüdischen Banditen", die Vertreter der Besatzungsbehörden angegriffen hatten. Ganz im Gegensatz zur OUN-UPA (Organisation Ukrainischer Nationalisten - Ukrainische Aufständische Armee, in Russland gesetzlich verbotene Organisationen), die er nicht verurteilte.
Eine ähnliche pastorale Aufgabe hatte Erzbischof Alojzije Stepinac, Primas von Kroatien. Der von der Ustascha geführte unabhängige Staat Kroatien (1941–1945) war der grausamste aller Satellitenstaaten des Reiches. Während aber die deutschen Verbrechen mit ähnlich kalter Grausamkeit begangen wurden, wie sie sonst die Vernichtung von Kakerlaken oder Ratten kennzeichnet, metzelten die Ustaschas die Serben geradezu genüsslich nieder – sie fanden Gefallen an kunstvollen Morden. Stepinac war nicht dagegen, wohl aber gegen die italienischen Faschisten, die in den von ihnen kontrollierten Gebieten den Ustascha-Terror verbieten wollten:
"Die Italiener kamen zurück und stellten die zivile und militärische Macht wieder her. Unverzüglich erwachten die schismatischen Gemeinschaften wieder zum Leben, und die orthodoxen Priester, die sich bisher versteckt hatten, sind wieder aufgetaucht und fühlen sich frei. Anscheinend sind die Italiener den Serben gegenüber wohlwollender eingestellt als gegenüber den Katholiken."
Die italienische Haltung gegenüber den Serben drückte sich darin aus, dass sie nicht gewillt waren, sie massenhaft abzuschlachten. Diese Zurückhaltung nannte Stepinac "nationale Schüchternheit", für ihn "das abscheulichste Verbrechen von allen".
Nach dem Krieg verbrachte der Prälat fünf Jahre im Gefängnis und blieb dann bis zu seinem Tod 1960 unter Hausarrest in seinem Heimatdorf. Und im Jahr 1998, während des Pontifikats von Johannes Paul II., war Stepinac (offenbar in Erfüllung des päpstlichen Gebots "Öffnet die Türen für Christus! Fürchtet euch nicht!") seliggesprochen worden.
Solch eine Seligsprechung war möglicherweise auch der Grund für die kategorische Weigerung des Patriarchen Alexius II, sich mit dem Papst zu treffen, worauf dieser sehr erpicht war.
Die Geschichte mit Scheptizki und Stepinac sowie die Duldung der Gräueltaten der Bandera-Anhänger und Ustaschas durch den Vatikan trugen nicht zum Ruhm der römischen Kurie bei. Vielmehr blieben sie als krummes Gerede und dunkle Taten in Erinnerung.
Die Gestalt des jetzigen Pontifex stößt auf gemischte Reaktionen, doch es scheint, dass er nicht die Absicht hat, die frühere Haltung des Vatikans gegenüber den Bandera-Anhängern zu wiederholen. Weil es sehr lange dauert, sich davon reinzuwaschen. Wenn es dann überhaupt noch möglich ist.
Maxim Sokolov, Jahrgang 1959, ist ein bekannter russischer Publizist, Buchautor und TV-Macher.
RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.
Mehr zum Thema - Historiker: Die russischen Wurzeln der Ukraine zu ignorieren, ist geschichtsvergessen