Der Leiter der Nichtregierungsorganisation "Faire Verteidigung", der Donezker Menschenrechtsverteidiger und Rechtsanwalt Witali Galachow, erklärte gegenüber RT einige Grundsätze der Arbeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) am Beispiel der Bürger der Volksrepubliken Donezk und Lugansk. Der Anwalt erklärte auch, was es den beiden Gerichtshöfen so leicht macht, zahlreiche Beschwerden von Bürgern der beiden Volksrepubliken über Menschenrechtsverstöße und Kriegsverbrechen unbearbeitet zu lassen, und was daraus als einzige Konsequenz zu ziehen ist.
Nationale Gerichtsbarkeit ausschöpfen, dann beschweren
Zunächst teilte der Jurist mit, wann man sich in Regelfällen überhaupt erst an die beiden Gerichtshöfe wendet.
- Witali, an welche internationalen Gerichte können sich normale Bürger heute wenden?
- Es gibt da zwei Gerichte. Der erste ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und der zweite der Internationale Strafgerichtshof. Menschen wenden sich dann an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, wenn sie auf der Ebene ihrer nationalen Gerichtsbarkeit keinen Schutz ihrer Rechte erhalten haben. Und wenn eine Person vor dem EGMR obsiegt, wird eine finanzielle Entschädigung festgelegt, die ihr zu zahlen ist.
Bevor er sich jedoch an den EGMR wendet, muss der Antragsteller alle möglichen Instanzen in seinem Land durchlaufen und dort auch eine endgültige gerichtliche Entscheidung über sein Anliegen erhalten. Und wenn er mit dieser Entscheidung nicht einverstanden ist und es auch nicht mehr möglich ist, sie im Lande anzufechten, dann kann er den EGMR bitten, seinen Fall zu prüfen.
Der Europäische Gerichtshof prüft, ob der mutmaßliche Verstoß richtig eingestuft wurde, ob die Rechtsvorschriften des jeweiligen Landes korrekt angewandt wurden oder nicht und ob das Ganze mit der Europäischen Konvention übereinstimmt.
Härtefälle von Ausnahmeregelungen erfasst
Es gibt allerdings Fälle, wenn es nicht möglich ist, Verstöße gegen Menschenrechte unter Erschöpfung der nationalen Gerichtsbarkeit überhaupt erst vor Gericht zu bringen. Doch auch dafür haben sowohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als auch der Internationale Strafgerichtshof ihre Ausnahmeregelungen.
- Die Ukraine erkennt die Volksrepubliken Donezk und Lugansk nicht an, sodass sich die Frage der nationalen Gerichtsbarkeit in diesem Fall nicht stellt. Was sollen denn die Bürger dieser Republiken tun?
- Bürger, die im Gebiet der Volksrepubliken Donezk und Lugansk leben, können sich mit ihren Beschwerden unmittelbar an internationale Gerichte wenden. Denn um ein Gericht der nationalen Gerichtsbarkeit anzurufen, muss man die entsprechenden Beweise sammeln, die von den Behörden der DVR und der LVR erfasst und abgefertigt werden – aber die Ukraine erkennt deren Urkunden nicht an: Beweise etwa für die Zerstörung von Häusern, die von deren örtlichen Behörden und dem Ministerium für Katastrophenschutz erstellt wurden, erkennt die Ukraine nicht an.
Darüber hinaus hat die Ukraine noch kein einziges Gerichtsurteil zu Schäden an Leben oder Gesundheit von Bürgern infolge von Feindseligkeiten erlassen, das rechtskräftig umgesetzt worden wäre. Dies ist ein weiterer Grund, sich unmittelbar an den EGMR zu wenden – unter Umgehung der nationalen Gerichtsbarkeit der Ukraine.
Das Erste, was dann nachgewiesen werden muss, ist ein Verstoß der Ukraine gegen die Europäische Konvention. Als Zweites kommt die Forderung einer Wiedergutmachung materieller und moralischer Schäden. Als Beweise dienen Aussagen der geschädigten Personen und weiterer Zeugen, Bildmaterial, Gutachten und Schadensbewertungen.
Justitia nur auf einem Auge blind
Doch beide Gerichtshöfe missachten regelmäßig ihre eigenen Regelwerke: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verschleppt die Verfahren, während der Internationale Strafgerichtshof sich von der ukrainischen Seite vorgaukeln ließ, sie könne alle derartigen Fragen innerhalb der nationalen Gerichtsbarkeit regeln – sodass es aufgrund der meisten Beschwerden gar nicht erst zur Eröffnung von Gerichtsverfahren kam.
- Wie viele Unterlagen wurden dem EGMR bereits von Opfern der Kampfhandlungen in der Volksrepublik Donezk zugeleitet?
- Was Zerstörungen, Tote und Verletzte betrifft, so wurden seit Beginn der Feindseligkeiten im Jahr 2014 mehr als 6.000 Beschwerden darüber eingereicht.
Gemäß dem Reglement des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte müssen Situationen, in denen das Leben und die Gesundheit von Bürgern bedroht sind, vorrangig geprüft werden. Doch in den acht Jahren des Krieges hat der EGMR kein einziges Urteil zum Donbass gefällt. Sie haben selbst gegen all ihre eigenen Vorschriften verstoßen.
Gleichzeitig brauchte der EGMR zum Beispiel im Jahr 2017 zur Prüfung des Falles Nawalny zwei Jahre, und im Jahr 2021 brauchte es zur Festlegung der Übergangsmaßnahme für die sofortige Freilassung Nawalnys nur zwei Wochen.
- Gibt es eine Höchstfrist, innerhalb derer sie die Beschwerde dennoch prüfen müssen?
- Nein. In Friedenszeiten, also vor 2014, konnte es sechs bis sieben Jahre dauern, bis ein Gerichtsurteil vorlag.
- Glauben Sie, dass der EGMR jemals Beschwerden von DVR-Bürgern prüfen wird?
- Vielleicht wird er das eines Tages. Aber zu wessen Gunsten ist allerdings unbekannt.
- Gab es im letzten Monat neue Beschwerden Ihrer Mitbürger an den EGMR?
- Nein, es gab keine neuen Beschwerden, weil wir uns mitten im Krieg befinden. Ich spreche jetzt mit Ihnen, während vor meinem Fenster geschossen wird und Granaten explodieren. Dafür haben die Menschen jetzt keine Gelegenheit.
- Sie haben gesagt, dass auch der Internationale Strafgerichtshof für unser Thema Relevanz hat. In welchen Fällen gehen die Menschen denn dorthin?
- Wenn Verbrechen des Völkerstrafrechts begangen werden. Es gibt ein Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) – das Römische Statut, in dem alle Kriegsverbrechen aufgeführt sind, für die die höchsten Behörden eines Landes zur Rechenschaft gezogen werden müssen.
Jeder Beschuss und jede Zerstörung einer zivilen Einrichtung, jeder Tod oder Verwundung von Zivilisten, oder wenn Militärangehörige Vergewaltigung, Plünderung, Folter begangen wird – all dies fällt unter Kriegsverbrechen.
Sieben Jahre lang hat die Anklagebehörde des IStGH die Lage im Donbass untersucht – und Ende 2020 einen Bericht vorgelegt, es sei eine Reihe von in die Zuständigkeit dieses Gerichts fallenden Verbrechen begangen worden. Der Staatsanwalt muss dann bei der Gerichtskammer die Genehmigung zur Einleitung von Ermittlungen beantragen.
Dies hat er jedoch erst mit Beginn der russischen Militäroperation getan, als 40 Länder den Staatsanwalt baten, ein Verfahren zu eröffnen. Und die acht Jahre hindurch ist kein einziger Vertreter der internationalen Staatsanwaltschaft im Donbass gewesen. Sie hätten mit eigenen Augen sehen können, was hier geschah. In ihrem Bericht von 2016 hat die IStGH-Staatsanwaltschaft die LVR und die DVR als Parteien eines bewaffneten Konflikts anerkannt. Doch trotzdem war in dieser Angelegenheit die Seite der Volksrepubliken für sie gleichsam nicht existent.
Mit Vertretern der Ukraine haben sie bei alldem erfolgreich kommuniziert.
- Inwiefern?
- Sie statteten Visiten ab, organisierten Seminare, tauschten Informationen aus und hielten Vorträge. Die Ukraine übergab ihnen Pakete mit Dokumenten über Kriegsverbrechen.
Die Ukraine bestand darauf, dass sie allein unter ihrer eigenen Gerichtsbarkeit alle Fragen klären und die Täter vor Gericht stellen könne. All diese Kontakte fanden statt, um eine internationale Ermittlung zu verhindern.
- Wie oft wandten sich Bürger der Volksrepublik Donezk an den Internationalen Strafgerichtshof insgesamt?
- Es gibt mehr als 3.000 Fälle. Umgerechnet in Papier wären das 60 Kilogramm. Zurzeit wird jedoch alles elektronisch abgewickelt, da der Postverkehr bei uns praktisch tot ist. Aber wir wissen auch gar nicht, ob sie unsere Appelle überhaupt erhalten oder nicht.
- Keine Rückmeldung?
- Nein. In all der Zeit habe ich nur drei oder vier Briefe von ihnen erhalten, in denen sie mich darüber informieren, dass sie Unterlagen zu bestimmten einzelnen Beschwerden erhalten haben. Auf der Webseite des ICC-Anklägers ist ein spezielles Portal für unsere Situation eingerichtet – man gelangt dorthin über die einzige Schaltfläche auf Russisch "Cвязаться со Следователем", die Entsprechung von "Contact an Investigator" oder "Contacter un Enquêteur". Dort können Sie ein Formular ausfüllen, das Ereignis kurz beschreiben und angeben, wenn ein Dokument, Videomaterial oder etwas anderes vorliegt. Eine Rücksendeadresse zur Kontaktaufnahme wird angegeben. Der Ermittler der Staatsanwaltschaft sollte sich dann mit dem Beschwerdeführer in Verbindung setzen und ihn bitten, die verfügbaren Beweismittel zu übermitteln oder zu überstellen. Am 15. März füllte ich ein solches Formular aus, es wurde mit einer Nummer versehen, wurde registriert – aber keine Rückmeldung erhalten, auch bis heute nicht.
Europas internationale Gerichte diskreditiert – Zeit für neue in Eurasien
Die Hoffnungen darauf, dass der IStGH oder der EGMR die bei ihnen eingereichten Beschwerden überhaupt jemals bearbeiten werden, sind gering, so Galachow. Chancen auf Erfolg sieht der Donezker Menschenrechtsaktivist lediglich in der Gründung neuer Gerichte oder darin, alle Rechtsübertritte in den Volksrepubliken des Donbass oder der Ukraine zu ahnden. Alle diese Varianten haben eines gemeinsam: Sie setzen einen Sieg über die Ukraine voraus. Nicht umsonst spricht der Anwalt auch von einem zweiten Nürnberg.
- Falls die Beschwerden jemals angehört und entschieden werden – welche Sanktionen drohen bei Nichtbefolgung einer Entscheidung eines internationalen Gerichts?
- Was den EGMR anbelangt, so denke ich, dass er die Fälle aufgrund des Umfangs der Informationen nicht getrennt behandeln wird. Sie würden alle Fälle in einem einzigen Verfahren zusammenfassen und eine einheitliche Entscheidung treffen. Beim Betrag der Entschädigung können sie eine Abstufung vornehmen: für eine Wohnung, sagen wir, 20.000 Euro, für ein Haus 50.000 und für einen Todesfall vielleicht auch 50.000 Euro.
Die Ukraine würde das Urteil des Internationalen Gerichtshofs innerhalb von drei Monaten umsetzen müssen. Setzt sie es nicht um, würden die Informationen an das Ministerkomitee des Europarats weitergeleitet. Und ab dann folgen Sanktionen bis hin zum Ausschluss aus dem Europarat.
- Was ist mit dem Internationalen Strafgerichtshof?
- Der IStGH zieht zu strafrechtlicher Verantwortung. Hier ist es wichtig, die Täter zu identifizieren – und wenn diese verurteilt werden, dann wird den Opfern eine entsprechende finanzielle Entschädigung festgesetzt: Der IStGH verfügt über eine Abteilung für die Entschädigung von Opfern, und alle Zahlungen werden aus den von den Gerichtsteilnehmern gezahlten Gebühren geleistet. Wir müssen jedoch davon ausgehen, dass der IStGH sich überhaupt keine Eile machen wird, in unserer Sache irgendjemanden zu verurteilen: Denn seit acht Jahren ist kein Versuch dazu unternommen worden. Daher könnte sich die Frage nach der Schaffung eines eigenen Gerichts stellen.
- Nur für die Sache der beiden Volksrepubliken?
- Es ist möglich, ein Gericht zu einer bestimmten Situation ins Leben zu rufen, wie seinerzeit den Nürnberger Prozess, wie die Gerichte für Jugoslawien und Ruanda.
- Wenn der EGMR und der IStGH die Probleme der Bürger der Donezker Volksrepublik ignorieren, wie groß sind dann die Chancen, dass man in Europa ein separates Gericht schaffen wollen wird?
- In Europa werden sie das auch gar nicht wollen. Europa wird sich dem mit allen Mitteln widersetzen. Warum sollten wir ihr überhaupt Aufmerksamkeit schenken? Es gibt Eurasien, das ebenfalls ein eigenes Gericht einrichten kann.
Überhaupt gibt es mehrere Möglichkeiten: Kriegsverbrecher in der Ukraine und nach den dortigen Gesetzen vor Gericht zu stellen oder aber in der DVR und LVR über sie zu richten. Oder wiederum einen eigenen internationalen Gerichtshof für diese Situation zu erschaffen, weil der EGMR und der IStGH sich selbst diskreditiert haben.
Dies sind die drei möglichen Varianten. Welche davon funktionieren wird, kann ich nicht vorhersagen.
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