Reportage von Jelisaweta Koroljowa
Ein Konvoi von drei Kleinbussen betritt das Territorium des russischen Grenzübergangs "Wessjolo-Wosnessenka" und hält auf dem Parkplatz. Solche Busse aus dem umkämpften Mariupol kommen seit Mitte vergangener Woche regelmäßig hierher. Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums sind vom 18. bis 20. März fast 60.000 Einwohner von Mariupol sowie 139 ausländische Staatsbürger nach Russland evakuiert worden.
Gleichzeitig halten dem Ministerium zufolge ukrainische Nationalisten immer noch Geiseln und hindern bis zu 130.000 Zivilisten daran, die Stadt zu verlassen.
Die Stadt gibt es nicht mehr
Sobald sich die Türen der Busse öffnen, steigen die Mitarbeiter des Notfallministeriums ein und zählen schnell die Personen, wobei sie besondere Rücksicht auf die Anzahl der Kinder nehmen. Ihnen folgen Freiwillige, die Wasserflaschen und Brötchen in den Kleinbus bringen, damit sich die Menschen erfrischen können: Sie fuhren mehr als zwölf Stunden zur Grenze und riskierten dabei, unter Beschuss zu geraten. Eine der Frauen im Bus erzählt:
"Seit dem 1. März gibt es in der Stadt keinen Strom, kein Gas, kein Wasser. Kommunikation funktionierte nicht, und wir erfuhren von der Evakuierung nur, weil das russische Militär zu unseren Häusern kam. Sie haben gesagt, dass es einen grünen Korridor gibt und dass sie uns rausbringen werden."
In den Kellern der Häuser, in denen sie sich vor den Bombenangriffen versteckten, mussten die Menschen Feuer machen, um sich zu wärmen und das Essen zu kochen, das sie aus ihren Wohnungen mitgenommen hatten. Wasser wurde draußen geholt: Die Wagemutigsten gingen auf die Straße, um unter unablässigem Beschuss Schnee zu sammeln, den sie dann in Flammen zum Tauen brachten. Eine andere Passagierin berichtet:
"In unserem Keller hat in dieser Zeit eine Frau ein Kind geboren. Wir haben für sie Wasser auf dem Feuer erhitzt. Glücklicherweise gab es eine Ärztin unter uns, sie hat das Kind auf die Welt gebracht. Und es ist auch gut, dass die Frau selbst schnell und ohne Komplikationen geboren hat."
Sie selbst ist im fünften Monat schwanger und hat es geschafft, Mariupol zusammen mit ihrer Schultochter zu verlassen. Der Frau zufolge blieben einige ihrer Nachbarn, darunter noch eine junge schwangere Frau, in diesem Keller sitzen. Während der Evakuierung gelang es ihnen nicht, herauszukommen.
Die Einwohner Mariupols erzählen, sie hätten ihre Heimatstadt nicht wiedererkennen können, als sie zum ersten Mal seit mehreren Wochen die Keller verlassen hätten.
"Es gibt keine Stadt mehr, alles ist zerstört und niedergebrannt: Kein einziges Einkaufszentrum, kein einziger Laden. Auf den Straßen liegen Leichen, weil es niemanden gibt, der sie wegräumen könnte. Und es gibt so viele Tote, weil man die Passage durch den grünen Korridor sehr lange nicht zugelassen hat. Wenn Russland nicht wäre …"
In diesem Moment lässt ein Freiwilliger im Bus versehentlich eine große Packung Wasserflaschen fallen: Sie fällt laut auf den Boden. Der Mann neben ihm zuckt zusammen und dreht sich schnell in die Richtung des Geräusches um. Dann fängt er den erschrockenen Blick seines 14-jährigen Sohnes ein, entspannt die Schultern, lächelt und versucht, den Teenager aufzuheitern: "Ich hatte auch Angst, ich dachte, ich höre Beschuss. Komplett verrückt geworden."
"Niemand wird dem Hund was antun"
Nach dem Grenzübertritt fahren Kleinbusse nach Taganrog zu Übergangsunterkünften: Hier verbringen die Evakuierten einige Stunden bis hin zu einem Tag. Manche werden von Verwandten oder Freunden abgeholt, manche werden mit Sonderzügen in andere russische Städte gebracht, in denen man bereit ist, Flüchtlinge für eine längere Zeit unterzubringen.
Eine der Übergangsunterkünfte befindet sich in der Sportschule Nr. 13. Vor einem Monat wurden hier Flüchtlinge aus den Volksrepubliken Lugansk und Donezk aufgenommen. Jetzt werden Leute aus Mariupol hierher gebracht. In der Sporthalle stehen 220 Betten.
Eines von ihnen gehört aktuell der 82-jährigen Nadeschda Wiktorowna. Sie nahm ihren Hund namens Tusik mit zur Evakuierung: Der Hund hatte zusammen mit seiner Besitzerin zwölf Tage lang im Keller eines neunstöckigen Gebäudes überlebt. Jetzt bedeckt die Rentnerin, die sich von ihrem Bett bückt, den Hund sorgfältig mit ihrer Strickbluse, verfüttert ihm die Essensreste aus der Kantine und erinnert sich daran, wie das russische Militär sie beide gerettet hat:
"Sie rannten auf uns zu und fingen an zu schreien, dass wir alle schnell gehen sollten. Und es gab zu viele von uns, wobei die Tür klein war. Es kam zum Andrang. Die Soldaten begannen, uns aus dem Keller herauszuziehen. Ich rufe ihnen zu: 'Werft bitte meinen Hund nicht weg!' Sie sagten mir: 'Oma, beeilen Sie sich! Niemand wird Ihrem Hund was antun.' Sie haben uns auf einen Panzer gesetzt, und so sind wir bis zur nächsten Abzweigung gefahren, und dann sind wir an der Mauer entlang zum Bus gerannt, direkt unter dem Beschuss."
Sie sagt, ihr Tusik habe in diesem Moment alles verstanden: Wie die Menschen habe er sich beim Geräusch von Kugeln und Granaten niedergebeugt, nicht gebellt oder gewimmert. Ihr Haus habe bereits in Flammen gestanden, als sie aus dem Keller rannten. Die Frau ist sich sicher, dass alle unter dem eingestürzten Gebäude untergraben worden wären, wenn sie dort geblieben wären.
"Ich habe noch nie so einen Brand gesehen. Man löscht sie nicht einmal. Und jetzt stellt sich heraus, wir sind obdachlos. Ich habe mein Mariupol geliebt, und jetzt weinen wir, dass es diese Stadt nicht mehr gibt. Und wir hatten keine Zeit, Sachen mitzunehmen. Bei meiner Nachbarin Natascha und mir sind sogar unsere Zahnprothesen abgebrannt: An dem Tag, als wir in den Keller gerannt sind, hatten wir nicht einmal Zeit, sie aus den Gläsern zu holen."
Die Asow-Kämpfer hätten sie aber nicht in den Keller lassen können, erzählt die Frau:
"Meine Nachbarin, eine alte Frau, wandte sich irgendwann an die Asow-Kämpfer, die in der Nähe unseres Hauses waren. Sie bat sie: 'Helfen Sie mir, meinen Mann in den Keller herunterzubringen. Er ist gelähmt und kann sich eigenständig überhaupt nicht bewegen.' Und sie sagten ihr darauf: 'Fahr zur Hölle mit deinem Mann.'"
"Ihre Wohnung wird für Überblick benötigt"
In Notunterkünfte für Flüchtlinge wird humanitäre Hilfe gebracht: Kleidung und Schuhe, die Freiwillige für Menschen gesammelt haben. Die 70-jährige Galina (Name geändert) sitzt im Flur und betrachtet das blaue Kleid, das sie aus dem Zimmer mit angebotenen Sachen geholt hat. Sie trägt Sandalen, die zu klein für sie sind, also passen sie nicht komplett auf ihre Füße. Sie erzählt:
"Ich hatte alles: drei Wohnungen, ein Haus, ein Auto. Und jetzt gibt es davon nichts mehr. Jetzt muss ich Kleider von der Schulter eines anderen tragen."
Aus ihrem früheren Leben brachte Galina einen leuchtend rosa Lippenstift mit, den sie auch bei der Evakuierung weiter verwendet.
Sie riecht ein wenig nach Alkohol: Die Rentnerin gedachte ihres Mannes, der in Mariupol gestorben war, während sie sich im Flur ihrer Wohnung zu verstecken versuchten. Trotzig sagt die Frau:
"Ja, ich habe heute Alkohol getrunken. Heute ist der neunte Tag seit dem Tod meines Mannes. Er starb einfach vor Angst, konnte die ständigen Bombenangriffe nicht ertragen. Gott sei Dank ist er schnell gestorben. Er hatte bloß einen Herzanfall, und in zehn Minuten war er weg. Er war eine angesehene Person, der Leiter einer Abteilung im 'Asowstal'-Werk."
Galina konnte ihren Mann nicht bestatten. Sie schaffte es nur, seinen Körper in Stoff zu wickeln und ihn im Keller zu verstecken. Ihr Sohn kam zu ihr, und zusammen konnten sie nach Russland abreisen. Jetzt warten sie in der temporären Unterkunft darauf, dass Galinas Tochter aus dem Ausland zu ihnen kommt und ihre Verwandten abholt.
Die Menschen, die es geschafft haben, nach Hause zurückzukehren, um das Nötigste abzuholen, können sich glücklich schätzen. Die 25-jährige Lisa versucht zu lächeln, doch es entpuppt sich eher als bitteres Grinsen:
"Wir haben Glück, sehr viel Glück. Unsere Wohnung ist nicht abgebrannt. Wir versteckten uns in einem Luftschutzbunker, als das russische Militär zu uns kam und mitteilte, dass wir gehen müssten. Diese Gegend sollte bald auch unter der Erde unsicher werden."
Lisa und ihr Freund konnten für ihre Sachen in die Wohnung zurückkehren. Von den drei Eingängen zu ihrem Haus brannte nur der zweite nicht aus:
"Das Haus sah wie ein Zebra aus. Ein schwarzer Streifen, unser Eingang weiß, und dann wieder schwarz. Das Haus neben unserem mit sechs Eingängen brannte komplett ab."
Zusammen mit ihrem Freund und ein paar weiteren Bekannten überlegt Lisa jetzt, wo genau sie als Nächstes hingehen sollen. Sie haben keine Kontakte in Russland.
Die 79-jährige Lidia Alexejewna geht an ihr vorbei zum Ausgang der Unterkunft. Ihr Sohn Igor und ihre erwachsene Enkelin, die in Tränen ausgebrochen war, als sie ihre Großmutter am Leben sah, hakten sich unter und stützen sie von beiden Seiten. Die Verwandten kamen aus Jalta, um die Oma abzuholen. In Mariupol waren Lidia Alexejewna und ihre Nachbarn nicht in den Keller des Hauses gegangen, sondern lebten in den sichersten Wohnungen in den unteren Stockwerken. Im ersten Stock machte man Feuer, um sich aufzuwärmen, und im obersten Stock lebten noch ein paar Rentner, denen es zu schwerfiel, nach unten zu gehen.
Der Frau zufolge kamen im März ukrainische Soldaten in ihr Haus und besetzten ihre Wohnung im sechsten Stock:
"Sie kamen zu mir und sagten: 'Wir brauchen Ihre Wohnung für den Überblick.' Nun, ich nahm meine Sachen mit und zog zu einer Nachbarin im ersten Stock. Sie haben auch gefragt, zu welchen Nachbarwohnungen wir die Schlüssel haben, um auch dort Stützpunkte einzurichten."
Zwei Tage später habe das Militär der Streitkräfte der Ukraine ihre Wohnung einfach so verlassen, so Lidia Alexejewna. Sie habe die Soldaten nicht einmal nach der Evakuierung gefragt:
"Was hätten sie mir darauf gesagt? Sie hätten gesagt, dass sie einen anderen Job haben, und das war's."
Vor ein paar Tagen kam das Militär der DVR zu ihrem Haus. Sie forderten zehn Personen auf, ihre Sachen zu packen und sich für die Evakuierung bereitzumachen.
"Wir schnappen unsere Taschen und verlassen das Haus. Und draußen rennen zuerst zwei Soldaten mit Maschinengewehren und dann wir, zehn Leute: Man hat ununterbrochen auf der Straße geschossen. Wir laufen mit meiner Freundin am Meer entlang und verstehen, dass wir es nicht schaffen werden. Unsere Knie funktionieren nicht mehr. Plötzlich rennen zwei weitere Typen auf uns zu, Soldaten der DVR. Einer greift nach meiner Tasche, hebt mich mit der anderen Hand hoch, befiehlt: 'Halt mich am Hals.' Und so liefen wir mit ihm. Oder besser gesagt, er hat mich fast über den Boden getragen, und ich hatte manchmal kaum Zeit, meine Beine zu bewegen."
Lidia Alexejewna lächelt.
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