Deutschland habe sich, so der Konfliktforscher Leo Ensel, zu sehr und zu einseitig auf die Seite der Ukraine geschlagen.
"Man muss sich alleine mal anschauen, was sich der ukrainische Botschafter, Herr Melnyk, hier in Deutschland herausnehmen kann. Er kann zum Beispiel ungestraft den Rücktritt eines deutschen Marine-Vizeadmirals fordern, der Aussagen gemacht hat, die der ukrainischen Regierung nicht passen. Man stelle sich vor, was hier los wäre, würde der russische Botschafter Netschajew sich auch nur halb soviel herausnehmen!"
Kiew habe entscheidende Punkte von Minsk II nicht erfüllt – vor allem die geforderte Verfassungsänderung bis Ende 2015, die den Gebieten Donezk und Lugansk in der Ostukraine mehr Autonomie einräumen soll – und hoffe nun wohl darauf, dass das Abkommen "langsam vor sich hin sterben" werde.
Auf die Frage, ob die USA mit ihren Aussagen und der Evakuierung die angespannte Situation weiter anheizen wollten oder ob sie wirklich von einer russischen Invasion ausgingen, sagte er: "Für mich ist das eine Form von Hysterie, die aber auch eine Form psychologischer Kriegsführung sein könnte." Ausgerechnet die Ukraine selbst wiegele im Moment ja ab. Biden habe zwar recht damit, dass es zum Weltkrieg käme, würden Russen und Amerikaner aufeinander schießen. Man könne einen Krieg jedoch auch herbeireden, mahnte er.
Die Waffensendungen seitens der NATO seien Teil der Eskalationsspirale. Dass nun auch noch Truppen nach Rumänien verlegt würden, trüge ebenfalls nicht zur Deeskalation bei.
"Es wäre auch noch die Frage, ob diese Truppenverlegungen überhaupt mit der NATO-Russland-Grundakte von 1997 vereinbar wären."
Er äußerte aber auch Bedenken angesichts der russischen Manöver. Staaten wie Finnland und Schweden würden nun über eine NATO-Mitgliedschaft nachdenken. "Ob das im russischen Interesse ist, das sei dahingestellt."
In der Frage, ob Deutschland Waffen an die Ukraine liefere, hänge alles vom Rückgrat des Bundeskanzlers Scholz ab. Ensel nannte das, was momentan auf Scholz einwirke, ein "wahres Maschinengewehrgewitter sämtlicher Leitmedien". Er hoffe, Scholz habe ein festes Rückgrat.
"Es steht nichts weniger als die Sicherheit von ganz Europa auf dem Spiel, wenn hier nicht sofort deeskaliert wird. Aber mittelfristig ist selbst Deeskalation – so notwendig sie jetzt sein mag – nicht ausreichend. Es reicht nicht mehr, dass alle Akteure 'auf Sicht fahren'. Wir brauchen eine kompletten Neustart in den Beziehungen zwischen dem Westen und Russland! Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Idee der Einberufung einer neuen großen europäischen Sicherheitskonferenz in der Tradition von Helsinki 1975 und Paris 1990, wie sie kürzlich von einer Gruppe ehemaliger Bundeswehrgeneräle und Ex-Diplomaten gefordert wurde. Das wäre ein großer Schritt aus der Sackgasse."
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