Eine Analyse von Glenn Diesen
Nach Ausbruch der Unruhen in Kasachstan, mussten westliche Regierungen, Journalisten und Experten auf eine Reihe von Plattitüden und Klischees über den Kampf zwischen Demokratie und Autoritarismus zurückgreifen, während sie gleichzeitig eine Bedrohung durch Russlands Engagement herbeiredeten und die angebliche Absicht Moskaus an die Wand malten, die Sowjetunion wiederherzustellen zu wollen.
Der Kreml seinerseits hat die kasachische Regierung in ihrer Version der Ereignisse unterstützt, wobei Präsident Wladimir Putin die Unruhen als Aggression gegen die zentralasiatische Nation bezeichnete. Gemeinsam mit anderen Mitgliedern der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), entsandte Moskau im Rahmen einer friedenserhaltenden Mission und auf Bitten der kasachischen Regierung Truppen nach Kasachstan. Da nun ein Großteil der internationalen Gemeinschaft noch daran arbeitet, den Anschluss an die Realitäten vor Ort zu finden, scheinen sich nur wenige zu fragen, was die Folgen dieser Krise sein werden.
Die Ursachen
Die Massenproteste im ganzen Land wurden durch die Aufhebung der Obergrenze für Kraftstoffpreise ausgelöst, wodurch die Kosten für das Betanken von Autos mit Flüssiggas in die Höhe schossen. Die allgemeine Unzufriedenheit wurde jedoch eindeutig durch eine in den letzten Jahren stagnierende Wirtschaft, zunehmende Inflation, wachsende private Verschuldung und Arbeitslosigkeit zusätzlich geschürt. Diese sozialen und wirtschaftlichen Spannungen trugen auch dazu bei, den politischen Übergang in Kasachstan ins Wanken zu bringen. Nursultan Nasarbajew war fast 30 Jahre lang Präsident von Kasachstan, bis er 2019 zurücktrat und durch Qassym-Schomart Toqajew ersetzt wurde. Seitdem befand sich das Kasachstan in einer Übergangsphase, in der Toqajew und Nasarbajew das Land gemeinsam führten. Konkurrierende politische Ansichten und Loyalitäten innerhalb des Machtapparates wurden in einem Machtkampf zwischen dem ehemaligen und dem aktuellen Präsidenten an die Oberfläche gebracht.
Es gab sicherlich viele legitime Gründe, gegen die amtierende Regierung zu protestieren. Allerdings scheint eine radikale Minderheit den Anlass als willkommene Gelegenheit beim Schopf gepackt zu haben um die friedlichen Proteste für ihre Zwecke zu kapern. Die Radikalen hatten umgehend Zugang zu Schusswaffen, die gegen die Polizei und das Militär eingesetzt wurden. Bei dem Putschversuch wurden Regierungsgebäude angegriffen und besetzt und zum Teil in Brand gesteckt.
Es wird vermutet, dass eine ausländische Beteiligung diesem Konflikt noch eine zusätzliche komplizierte Komponente verliehen hat. Toqajew warf den Radikalen vor, dass sie aus dem Ausland finanziert werden und dort auch für den Umsturz ausgebildet wurden, obwohl er die USA nicht namentlich nannte. China hingegen hat Washington wesentlich direkter für die Anstiftung zu einer weiteren Farbrevolution verantwortlich gemacht, während Wladimir Putin die Ereignisse mit dem vom Westen unterstützten Maidan-Putsch in der Ukraine im Jahr 2014 verglich.
Belege für eine amerikanische Beteiligung wurden bisher nicht vorgelegt, und solche schwerwiegenden Vorwürfe müssten mit harten Beweisen untermauert werden. Der Verdacht, dass die USA eine Rolle gespielt haben könnten, ergibt sich jedoch eindeutig aus der Tatsache, dass ihre bewährten Instrumente für Regimewechsel, wie die National Endowment for Democracy (NED), in Kasachstan aktiv sind und typischerweise regierungsfeindliche Bewegungen finanzieren. Das Land ist ein unverzichtbarer Bestandteil sowohl der von Russland geführten Eurasischen Wirtschaftsunion als auch der chinesischen Belt-and-Road-Initiative (BRI), und somit ein strategischer Knotenpunkt in der Region.
Die Folgen
Da die Krise schnell außer Kontrolle geriet, bat Präsident Toqajew um Unterstützung durch das von Russland geführte Militärbündnis OVKS, bei dem Kasachstan Mitglied ist. Moskau stimmte dem Antrag zu und entsandte gemeinsam mit Tadschikistan und Kirgisistan Truppen ins Nachbarland, woraufhin sich die Krise schnell zu stabilisieren begann und die psychologische Wirkung dieses Eingreifens unmittelbar eintrat. Interne Spaltungen und Unsicherheiten innerhalb der Sicherheitsbehörden, des Militärs und der Polizei ließen sofort nach und Moskau und Peking sagten Toqajew, dem legitimen Präsidenten Kasachstans, ihre volle Unterstützung zu. Doch während die Krise scheinbar überwunden ist, bleiben die wirtschaftlichen Probleme und die Konflikte mit den nationalistischen Strömungen im Land weiterhin bestehen.
Einer der großen Gewinner dieser Entwicklungen ist unbestritten Präsident Toqajew. Der schleichende Machtwechsel scheint nun zu Ende, Toqajew hat den Aufstand gegen seine Regierung überlebt und zerlegt nun das Tandem mit Nasarbajew, nachdem er die volle Kontrolle über die Regierung erlangt und sich von den Gefolgsleuten rund um Nasarbajew entledigt hat. Auch Russland scheint gestärkt aus dieser Krise hervorzugehen. Stabilität in Kasachstan ist für Moskau unabdingbar, und die multilaterale OVKS hat sich als glaubwürdiger Garant für die Sicherheit in der Region behauptet. Die Glaubwürdigkeit des Bündnisses hatte wegen seiner passiven Rolle im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan gelitten. Mit der erfolgreichen Intervention in Kasachstan wurde die Relevanz des Militärbündnisses wieder hergestellt.
Auch die strategische Partnerschaft zwischen Russland und China wurde durch dieses Ereignis gestärkt. Anstatt weitere Spaltungen zu verursachen, was die zentralasiatische Region für noch mehr äußere Einflüsse geöffnet hätte, richteten Moskau und Peking ihre Positionen im Geiste der groß-eurasischen Partnerschaft aus und beide Länder scheinen gestärkt aus dem Ereignis hervorzugehen. Darüber hinaus sieht Peking in Moskau einen unverzichtbaren Partner, um die Ordnung in Zentralasien aufrechtzuerhalten – was gleichzeitig für mehr Gleichberechtigung in der Partnerschaft zwischen den beiden eurasischen Giganten sorgt.
Es ist jedoch zu erwarten, dass Russland und die OVKS-Truppen so schnell wie möglich wieder aus Kasachstan abrücken werden, da sich eine längere Truppenpräsenz im Land als kontraproduktiv erweisen könnte. Die kasachische Regierung hat auch bereits angekündigt, dass in den nächsten Tagen der Abzug der Truppen der OVKS beginnen soll. Kasachische Nationalisten scheinen eine gewichtige Fraktion innerhalb der Radikalen gewesen zu sein, und da etwa ein Viertel der Bevölkerung Kasachstans aus ethnischen Russen besteht, könnte eine längere Präsenz des russischen Militärs ethnische Spannungen eher fördern als lindern.
Nicht wenige westliche Medien scheinen hingegen ethnische Spannungen geradezu herbeireden zu wollen, indem über eine mögliche Annexion kasachischen Territoriums durch Russland spekuliert wird. So versuchte US-Außenminister Antony Blinken die Spannungen zu schüren, als er behauptete, das russische Militär sei gekommen um zu bleiben. "Ich denke, eine Lektion aus der neueren Geschichte ist, dass es manchmal sehr schwierig ist, Russen, die man einmal im eigenen Haus hat, zum gehen zu bewegen", sagte er während einer Pressekonferenz vor anwesenden Medienvertretern.
Anhaltende Unsicherheit
Es ist gut möglich, dass sich die Multivektor-Außenpolitik Kasachstans stärker in Richtung Russland und China verschieben wird, während die USA, die EU und die Türkei voraussichtlich an Einfluss in Zentralasien verlieren werden.
Die USA sind offensichtlich unglücklich mit dem Ausgang des Konflikts. Daher greift Washington verzweifelt nach einem strategischen Narrativ, indem es verkündet, im Namen der "friedlichen Demonstranten" zu sprechen, die Einladung von OVKS-Truppen durch die kasachische Regierung in Frage stellt und Russland beschuldigt, wieder Einfluss auf Länder ausüben zu wollen, die zuvor Teil der Sowjetunion waren.
Die USA hatten nicht mit einer Beteiligung der OVKS als Akteur in dieser Krise gerechnet und Blinken hat die kasachische Regierung nun aufgefordert zu rechtfertigen, weshalb Kasachstan "sich gezwungen sah, diese von Russland dominierte Organisation einzubeziehen." Es ist kein Geheimnis, dass sowohl die USA als auch die EU diplomatische Beziehungen und Kooperationen mit der OVKS und anderen Institutionen vermeiden, in denen Russland Mitglied ist, um diesen Institutionen die Legitimität abzusprechen. Die unipolare Ära ist jedoch längst vorbei und die Fähigkeit des Westens, Sicherheit zu monopolisieren, ist am Ende. Der kasachische Präzedenzfall wird wahrscheinlich weitreichende Auswirkungen auf den postsowjetischen Raum haben, nachdem sich die OVKS behaupten konnte.
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Glenn Diesen ist Professor an der Universität von Südostnorwegen und Redakteur des Journals Russia in Global Affairs. Man kann ihm auf Twitter unter @glenn_diesen folgen.
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