Eine Analyse von Dmitri Plotnikow
Die Ereignisse in Kasachstan entwickeln sich mit rasender Geschwindigkeit, wobei sich die Situation fast stündlich ändert. Zunächst schien es, als würden die Proteste gegen die steigenden Energiepreise nicht zunehmen. Seitdem hat das Land jedoch die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), eine von Russland geführte Militärallianz, um Hilfe gebeten, und Soldaten liefern sich erbitterte Straßenschlachten mit bewaffneten Marodeuren.
Kasachstan galt seit jeher als eines der stabilsten postsowjetischen Länder, wobei der Machtwechsel vom ersten Präsidenten zu seinem Nachfolger, der von den lokalen Eliten eingeleitet wurde, zunächst als reibungslos und effizient angesehen wurde. Heute steht das Land jedoch vor der vielleicht größten Herausforderung seit seiner Unabhängigkeit vor 30 Jahren.
Videoaufnahmen von Protesten in Kasachstan haben sich auf der ganzen Welt verbreitet. Demonstranten drangen in öffentliche Gebäude ein, trieben Militärfahrzeuge in die Flucht und entwaffneten Soldaten. Das Bürgermeisteramt in Almaty, der größten Stadt des Landes, die auch als "zweite Hauptstadt" gilt und sich mittlerweile zum Epizentrum der Protestbewegung entwickelt hat, wurde in Brand gesteckt.
Die Unruhen scheinen jedoch meist spontan und nicht koordiniert. Weder scheint es, dass es Rädelsführer gibt, die die Massen organisieren, noch hat sich eine politische Partei an die Spitze der Protestbewegung gestellt. Die Regierung weiß nicht, mit wem sie verhandeln soll, während die Demonstranten die Kontrolle über zahlreiche öffentliche Gebäude Kasachstans übernahmen sowie die Büros der Regierungspartei Nur Otan und die von nationalen Fernsehsendern gestürmt und zerstört haben.
Wie alles begann
Die Proteste begannen am 2. Januar im Westen Kasachstans, nachdem die Preise für Treibstoff angehoben wurden. Anstelle von Benzin wird von den meisten Bürgern verflüssigtes Erdgas (LNG) als Kraftstoff für Pkws verwendet. Die Regierung weigerte sich, die Preise weiterhin durch Subventionen niedrig zu halten, und machte deutlich, dass die Kosten für LNG fortan ausschließlich vom Markt geregelt werden. Und diese verdoppelten sich umgehend – von 60 auf 120 Tenge pro Liter (von 0,12 EUR auf 0,24 EUR).
Die Regierung ging davon aus, dass dieser Schritt "einen ausgewogenen Gaspreis auf der Grundlage von Angebot und Nachfrage ermöglichen" sowie "Investitionen ankurbeln" werde, um neue Produktionskapazitäten zu schaffen. Die Behörden behaupten, das alte Modell habe dazu geführt, dass die Gasproduzenten ständig Verluste machten und das Geschäft für sie unrentabel wurde.
In der Folge flammten in der Stadt Schangaösen Proteste auf und breiteten sich schnell auf den Westen und Norden des Landes aus. Demonstranten blockierten den Verkehr in zentralen Teilen von Kasachstan und forderten, die Preise für LNG auf das vorherige Niveau zu senken. Viele wollten auch die in Nur-Sultan ansässigen Beamten zur Rede stellen, die für die Erhöhung des Gaspreises verantwortlich waren. Anfangs verliefen die Proteste überwiegend friedlich, und es kam zu keinen Zusammenstößen mit der Polizei. Die Situation änderte sich jedoch drastisch. In der Folge wurden am 2. und 3. Januar 69 Personen von den Strafverfolgungsbehörden festgenommen.
Die Proteste hielten an, und der kasachische Präsident Qassym-Schomart Toqajew wies seine Regierung an, sich mit den steigenden Gaspreisen zu befassen. Bald gab der staatliche Pressedienst bekannt, dass gegen Besitzer von kasachischen Tankstellen Ermittlungen eingeleitet worden waren, um Preisabsprachen zu identifizieren. Die Regierung versprach, "ein Bündel von Maßnahmen" zur Regulierung des Gaspreises einzuleiten. Sie sagte auch, dass einige der lokalen Treibstoffhändler beschlossen hätten, den Benzinpreis von 120 auf 85 bis 90 Tenge (ca. 0,18 EUR) pro Liter zu senken, wie es in einem Erlass zur sozialen Verantwortung für Unternehmen vorgeschrieben ist.
Eskalation
Diese Maßnahme reichte jedoch nicht aus, um die protestierenden Menschen zu beruhigen, die zu noch radikaleren Aktionen griffen. Am Abend des 4. Januar kam es in vielen kasachischen Städten zu gewaltsamen Zusammenstößen mit der Polizei, die sich die ganze Nacht hinzogen. Polizisten setzten Schlagstöcke, Tränengas und Gummigeschosse gegen die Demonstranten ein, die ihrerseits zahlreiche Einsatzfahrzeuge der Ordnungskräfte in Brand setzten.
Um die aufgebrachten Bürger zu beruhigen, erklärte sich Präsident Toqajew bereit, einer ihrer Forderungen nachzukommen, und entließ die Regierung. Später kamen Gerüchte über vorgezogene Parlamentswahlen auf. Doch auch dieses zweite Zugeständnis der Regierung konnte den Unmut der Straße nicht besänftigen. Dies kann durch die Zusammensetzung der neuen Regierung erklärt werden, die sich nicht wesentlich von der vorherigen unterscheidet. Älichan Smajylow wurde zum neuen Regierungschef ernannt. Im vorherigen Kabinett bekleidete er das Amt des ersten stellvertretenden Ministerpräsidenten. Es schien, als würden alle Zugeständnisse die Menschen nur noch mehr verärgern.
Am 5. Januar begannen die Angriffe auf Verwaltungsgebäude, die in Brand gesetzt wurden. Gleichzeitig zögerte die Polizei oft, gegen die Demonstranten vorzugehen. Einige Beamte wurden sogar dabei beobachtet, wie sie die Seiten wechselten. Diese Proteste unterscheiden sich drastisch von allen früheren Protesten in Kasachstan. Die Massenbewegung von 2019, die zum Machtwechsel vom langjährigen Staatspräsidenten Nursultan Nasarbajew hin zu Toqajew führte, wurde sehr schnell und gewaltsam aufgelöst – anders als wir es heute gesehen haben. Ein flüchtiger Beobachter könnte den Eindruck gewinnen, dass sich die Lage in Kasachstan innerhalb weniger Tage zugespitzt hat und explodiert ist und dass die Regierung teilweise handlungsunfähig ist.
Der Chef des Moskauer Clubs für eurasische Analysen, Nikita Mendkowitsch, sieht als Gründe für diese Massenproteste nicht nur die schwierige wirtschaftliche Lage des Landes, sondern auch Versuche der Regierung, mit Nationalisten anzubandeln.
Proteste gehen von Nationalisten aus
"In den vergangenen ein oder zwei Jahren haben wir Versuche der Regierung gesehen, mit Nationalisten und prowestlichen Gruppen anzubandeln, indem antirussische Maßnahmen eingeführt wurden. Damit antagonisierte die herrschende Elite die russischsprachige Bevölkerung Kasachstans, die auf der Seite von Russland steht und die Mehrheit in Kasachstan stellt. Dadurch hat die Regierungspartei bei den Parlamentswahlen im Januar 2021 über eine Million Stimmen verloren. Die nationalistische Opposition interpretierte dies jedoch als Zeichen der Schwäche des herrschenden Regimes und bemühte sich, ihm ein Ende zu bereiten", sagte der Analyst.
Er betonte, derzeit würden die Parteien Demokratische Wahl Kasachstans (DVK) und Oyan Qazaqstan (OQ), die prowestliche Oppositionsgruppen sind, versuchen, die Proteste aktiv anzuführen und sie zur Förderung ihrer eigenen Ziele zu benutzen. Gerade deshalb, so Mendkowitsch, konnte die Bereitschaft der Regierung, den wirtschaftlichen Forderungen der Demonstranten nachzukommen, die Unruhen nicht beenden, sondern hat im Gegenteil die Demonstranten weiter radikalisiert und sie zu rein politischen Forderungen motiviert.
Roman Juneman, ein russischer Politiker, der die ersten 18 Jahre seines Lebens in Kasachstan verbrachte, stimmt Mendkowitsch zu, dass Nationalisten die Basis der Protestbewegung sind. "Nicht die Liberalen oder Hipster protestieren, sondern die Nationalisten und Patrioten. Deshalb sieht man so viele von ihnen, die mit der Nationalflagge auf den Straßen sind und sogar die Hymne Kasachstans singen", sagte er. Juneman weist darauf hin, dass die heutigen Proteste die größten in der Geschichte des unabhängigen Kasachstans sind.
Er glaubt auch, dass hier die anhaltende Wirtschaftskrise und die COVID-19-Pandemie eine Rolle spielen, da beides die Situation im Land verschlimmert hat. "Als ich Kasachstan in Richtung Russland verließ, war das Leben dort nicht anders als in anderen russischen Regionen, abgesehen vielleicht von Moskau, aber jetzt ist die Lebensqualität dort viel niedriger", erinnert sich Juneman. Die Regierung hat kürzlich ein neues Paket von Anti-Pandemie-Maßnahmen eingeführt, und das könnte vielen Menschen einen Grund gegeben haben, auf die Straße zu gehen.
Juneman kommentierte auch die Meinung einer Reihe von Experten, die sagten, Präsident Toqajew sei möglicherweise nicht sehr daran interessiert, die Proteste niederzuschlagen, um sie dazu zu nutzen, seinen politischen "Paten" Nasarbajew loszuwerden, der immer noch enormen Einfluss auf die Politik des Landes hat. Juneman glaubt, dass niemand in Kasachstan, einschließlich der Demonstranten, Toqajew und Nasarbajew als echte Gegner wahrnimmt und dass selbst wenn Toqajew irgendwelche offiziellen Schritte gegen den ehemaligen Präsidenten unternehmen würde, ihn dies von nichts freimachen oder gar die protestierenden Bürger beruhigen würde.
Wirtschaftliche und soziale Krise als Motor der Proteste
Juneman ist überzeugt, dass die Demonstrationen durch die Frustration über anhaltende wirtschaftliche und soziale Krisen ausgelöst wurden und nicht das Ergebnis eines Machtspiels in den oberen Kreisen des Landes sind. Er glaubt, dass sogar die Entscheidung von Toqajew, den Sitz von Nasarbajew im Sicherheitsrat des Landes zu übernehmen, von Nasarbajew selbst begrüßt wurde, da er damit von jeder Schuld und Verantwortung für das Vorgehen der Regierung gegen die Demonstranten freigestellt wird.
Juneman meint, dass die Rede von Toqajew über künftige politische Reformen hier wichtig ist und dass viel davon abhängen wird, ob und wie er seine Vorhaben durchsetzt. "Wenn Toqajew im Rahmen dieser Reformen den Titel von Nasarbajew als Führer der Nation in Frage stellt, dann wird klar, dass wir hier einen Staatsstreich vor uns haben und dass diese Proteste für ein politisches Spiel ausgenutzt werden, selbst wenn sie nicht von Anfang an dafür orchestriert wurden."
Die russische Regierung hat bereits in einer öffentlichen Erklärung gesagt, dass es die aktuellen Entwicklungen als interne Angelegenheit Kasachstans betrachtet und fest davon überzeugt ist, dass die Regierung des Landes in der Lage ist, die Situation unter Kontrolle zu bringen. Sollten die Proteste jedoch anhalten, wird Moskau ein genaueres Auge auf seinen Nachbarn im Süden werfen.
Kaum zu überschätzende strategische Bedeutung von Kasachstan für Russland
Die Grenze zwischen Russland und Kasachstan erstreckt sich über fast 7.000 Kilometer und ist damit die längste zusammenhängende internationale Binnengrenze der Welt und ein Schlüsselfaktor in der Sicherheitsstrategie Moskaus. Politische Stabilität in Kasachstan ist für Russland von größter Bedeutung, da die dortige Instabilität es offen für alle möglichen Bedrohungen aus dem Süden macht. Die Grenze ist nicht nur lang, sondern erstreckt sich hauptsächlich durch dünn besiedelte Steppe und ist daher äußerst schwer zu kontrollieren.
Ein weiterer wichtiger Faktor ist der Weltraumbahnhof in Baikonur, der von Russland gepachtet wird und das berühmte Kosmodrom beherbergt. Russlands andere Weltraumeinrichtung, Wostotschny, wurde kürzlich in Betrieb genommen, aber kam bisher nur für unbemannte Missionen zur Anwendung. Bis dieser Standort bereit ist, die Kapazitäten von Baikonur vollständig zu ersetzen, braucht Russland sowohl Baikonur als auch eine politische Stabilität in Kasachstan, die für den Betrieb des Standorts unerlässlich ist.
Auch Saryschagan, ein für Russlands nationale Sicherheit wichtiges Testgelände, befindet sich bei dem Ort Saryschaghan in Kasachstan. Es ist der erste und einzige Standort in Eurasien zum Testen von Raketenabwehrsystemen. Seit dem Zusammenbruch der UdSSR wurden einige Einrichtungen in Saryschagan an Russland verpachtet, während andere an das kasachische Nationale Zentrum für Radioelektronik und Kommunikation übertragen wurden. Die Fähigkeit, dieses Testgelände zu nutzen, spielt eine Schlüsselrolle für die Verteidigungsfähigkeit Russlands.
Kasachstan hat auch eine große russische Gemeinde: 3,5 Millionen ethnische Russen machen 18,4 Prozent der Gesamtbevölkerung des Landes aus. Unter ihnen sind die Nachkommen von Kosaken, die mindestens seit dem 16. und 17. Jahrhundert auf dem Gebiet des heutigen Kasachstans leben. Das kaiserliche Russland schickte viele politische Gegner des Regimes nach Kasachstan ins Exil, während die UdSSR später einige ihrer besten Experten in Industrie und Landwirtschaft dorthin entsandte, um die Entwicklung der Region zu unterstützen. Die Sicherheit der russischen Gemeinschaft in Kasachstan mit seiner reichen Geschichte ist Russland ein großes Anliegen.
Mendkowitsch sagte gegenüber RT, Russland sei bereits Teil des Narrativs rund um die aktuellen Ereignisse in Kasachstan. "Da sich die Beziehungen zwischen den Ländern in den Jahren 2020 und 2021 allmählich zu verschlechtern begannen, hat die Regierung die Unterstützung der Bevölkerung verloren. Die nationalistischen Bewegungen sind auf dem Vormarsch. Viele glauben, dass es den Behörden schwer fallen wird, sich die Unterstützung Moskaus zu sichern, und sind daher mutig und willig zu kämpfen und zu gewinnen", sagte er.
Der Analyst glaubt auch, dass die Spannungen in Kasachstan deshalb so hoch sind, weil die Regierung gegenüber den Nationalisten zu nachsichtig war und wenig unternommen hat, um sie unter Kontrolle zu halten, und dies jetzt die Proteste anheize.
Mehr Spannungen mit China denn mit Russland
Juneman hingegen weist darauf hin, dass es "unter den Demonstranten keine Russen auf den Straßen gibt und die Protestierenden auf Kasachisch und nicht auf Russisch kommunizieren, obwohl die Situation die gesamte Nation betrifft". Gleichzeitig hält es Juneman für unwahrscheinlich, dass die Proteste antirussisch werden, da Kasachstan heute mehr Konflikte mit Peking als mit Moskau hat. Obwohl unwahrscheinlich, ist ein solches Szenario jedoch nicht völlig auszuschließen.
Die Proteste in Kasachstan sind für Russland innen- und außenpolitisch von großer Bedeutung. Russische Medien und Politiker zeigen sich schon länger über die wachsende Popularität nationalistischer Bewegungen in Kasachstan besorgt. Moskau wird die Entwicklungen dort sicher genau beobachten, da die Situation in Kasachstan sowohl für die innere als auch für die äußere Sicherheit Russlands und für die Wahrung des Status quo im postsowjetischen Raum von entscheidender Bedeutung ist.
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Übersetzt aus dem Englischen.
Dmitri Plotnikow ist ein politischer Journalist, der sich mit der Geschichte und den aktuellen Ereignissen der Ex-Sowjetstaaten befasst.