von Rainer Rupp
Aus den Presseerklärungen des Kremls und des Weißen Hauses über das zweistündige Online-Gipfelgespräch zwischen dem russischen und US-amerikanischen Präsidenten geht hervor, dass sich die Diskussion in der Hauptsache um die Ukraine-Krise gedreht hat. Aus der leider sehr kurzen Presseerklärung des Weißen Hauses lassen sich nur wenige Mosaik-Steine herauslesen. Dafür gibt die russische Version mehr Aufschluss. Beide Erklärungen in englischer Sprache sind nachfolgend zu den jeweiligen offiziellen Webseiten verlinkt: hier die US-amerikanische und hier die russische Erklärung.
Im Vorfeld des jüngsten Online-Gipfels hatte Biden jeden Gedanken, irgendwelche roten Linien der Russen zu akzeptieren, kategorisch zurückgewiesen. Damit folgte er der in Washington, D.C. dominierenden Line, dass die alleinige und unverzichtbare Supermacht USA mit den feinsten und stärksten Streitkräften der Welt jederzeit zwar anderen Länder "rote Linien" ziehen kann und darf, sie sich selbst aber so etwas niemals gefallen lassen dürfe. Dementsprechend hatte Joe Biden noch wenige Tage vor dem Online-Treffen den Appell Wladimir Putins für eine US-Garantie der Sicherheit der Grenzen Russlands als vollkommen inakzeptabel beiseite gewischt.
Nach der inzwischen mehr als zwei Jahrzehnte dauernden, unaufhaltsamen Expansion der USA und der NATO in Richtung russischer Grenzen stehen NATO-Panzer nun kaum mehr als hundert Kilometer vor den Toren von Sankt Petersburg, der zweiten Hauptstadt Russlands. Und mit der Ukraine als Mitglied der NATO würden weitere NATO-Panzer und Raketen ebenfalls an die russische Grenze und hunderte Kilometer näher an Moskau vorrücken. Man muss schon ein verbohrter Kremlfeind sein, um kein Verständnis für die Russen zu haben, wenn sie jetzt ultimativ darauf drängen, dass die USA und die NATO ihnen nicht noch näher auf den Pelz rücken.
Diese russische Forderung nach einer Sicherheitsgarantie ist nicht neu, sie existiert seit geraumer Zeit. Neu ist jedoch, dass jetzt die Russen stark genug sind, diese Forderungen durchzusetzen. Im Grunde genommen erinnert die aktuelle Lage in der Ukraine an die Kuba-Krise und daran, wie die USA seinerzeit auf sowjetische Raketen in Kuba reagiert haben. Damals hatten die Amerikaner den Sowjets im Kreml ein Ultimatum gestellt: Entweder Ihr zieht die Raketen samt Anlagen ab oder wir bombardieren sie und schicken unsere Marines hin, um den Rest aufzuräumen. Den Sowjets blieb nichts anders übrig, als dem Ultimatum Folge zu leisten, denn sie wären absolut nicht in der Lage gewesen, mit konventionellen militärischen Mitteln Kuba zu verteidigen, also ohne das Risiko eines Atomkrieges einzugehen. Zumindest gelang es dem Kreml dennoch, im Gegenzug von Washington den Abzug der zuvor im Norden der Türkei stationierten, gegen Russland gerichteten US-Raketen vom Typ Jupiter zu erreichen.
In der Ukraine-Krise heute sind allerdings die Karten andersherum verteilt als damals in Kuba. Allein aus geografischen Gründen wären die USA nicht imstande, einen konventionellen Krieg gegen Russland zu gewinnen, auch nicht mit Hilfe von ukrainischem und polnischem Kanonenfutter. Außer den Bataillonen aus fanatisierten Russenhassern und Faschisten ist das Gros der ukrainischen Armee hoffnungslos demoralisiert und zudem auch noch schlecht ausgerüstet und leidet an technisch rückständigem Wissen. Auch bei den Polen ist längst nicht sicher, ob die überhaupt bereit wären, ihr Leben an der Seite von ukrainischen Faschisten zu riskieren, an der Seite der Nachkommen derer, die mit deutschen SS-Einheiten kollaborierten und gegen Ende des Zweiten Weltkriegs über Hunderttausend ihrer polnischen Vorväter ermordeten.
Aber es gibt noch weitere Gründe für eine massive regionale Unterlegenheit der US-Militärs in dieser Region. Diese Erkenntnis ist zwar in der US-Militärführung, aber noch nicht bei den zivilen US-Kriegsfalken angekommen, die mit ihren europäischen Kollegen weiter auf gefährliche Spannungen mit Russland drängen. Russland hat nämlich erfolgreich eine militärtechnische Revolution weitgehend abgeschlossen. Damit sind nicht nur die neuen russischen Hyperschallwaffen gemeint, von denen eine Reihe ihr Können bereits im militärischen Einsatz gezeigt haben, sondern auch die Quantensprünge in der strategischen und taktischen Luftabwehr, ebenso auch in der elektronischen Kriegsführung, die im Zusammenwirken mit neuen AC- und AD-Systemen dem Gegner den Zugang zu Land, zu Wasser und in der Luft zu designierten Regionen komplett verwehren können.
Zu dieser für Washington unangenehmen Erkenntnis ist auch die riesige militärische US-Denkfabrik RAND bereits vor zwei Jahren gekommen. Dort werden in der Abteilung für Streitkräftevergleiche unter unterschiedlichsten taktischen und strategischen Annahmen Kriegspläne und Szenarien gegen Russland und China an Supercomputern "durchgespielt". Nach einer dieser umfangreichen "Kriegsspiele" gegen Russland im Jahr 2019 musste der damalige Leiter dieser Übung David Ochmanek eingestehen, dass selbst unter der Annahme günstiger Szenarien "Blau", nämlich die USA, den Kürzeren ziehen und sich die angeblich "besten Kampftruppen der Welt" nach kurzer Zeit unter schwersten Verlusten würden zurückziehen müssen.
Wörtlich sagte Ochmanek seinerzeit:
"Wir verlieren eine Menge Leute. Wir verlieren eine Menge Ausrüstung. In der Regel gelingt es uns nicht, unsere Ziele zu erreichen und den Gegner von einer Aggression abzuhalten. Wenn wir in unseren Spielen gegen Russland und China antreten, dann bekommt 'Blau' (USA) seinen Arsch auf dem Tablet serviert."
Und inzwischen ist die militärtechnologische Revolution in Russland weiter fortgeschritten. So kann beispielsweise eine Salve von 24 lediglich konventionell bewaffneten, russischen Hyperschall-Raketen – gegen die die Amerikaner nach eigenem Bekenntnis keine Abwehr haben – eine ganze Flugzeugträger-Kampfgruppe vernichten, lange bevor deren Flugzeuge und Raketen russische Landziele erreichen können. Damit wird zumindest in Europa das bisherige Kräfteverhältnis zwischen russischen und amerikanischen militärischen Fähigkeiten auf den Kopf gestellt.
Und nicht zuletzt dürfte sich auch in den europäischen NATO-Ländern der Enthusiasmus sehr in Grenzen halten, für die USA zum angeblichen Schutz des nicht-NATO-Staates Ukraine gegen Russland in den Krieg zu ziehen. Dafür ist die Ukraine wohl doch nicht wichtig genug! Hinzu kommt, dass weder Frankreich und Deutschland noch Italien und Spanien oder gar die Türkei große Lust verspüren, wegen der Ukraine ihre wertvollen Kommando-, Kontroll- und Kommunikationszentren im eigenen Land zu Zielescheiben für punktgenaue und nicht neutralisierbare russische Hyperschallraketen zu machen.
Vor diesem Hintergrund hat Putin beim Online-Gipfel seinem Gegenspieler Joe Biden ohne diplomatische Schnörkel klar gemacht, dass Moskau eine Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO nicht tolerieren wird! Die oben dargestellte, grundlegende Veränderung der Konstellation der Kräfte zwischen den USA und Russland zugunsten Moskaus hat dann auch sicherlich dafür gesorgt, dass Joe Biden die rote Linie Putins im Gespräch doch nicht so einfach beiseite gewischt hat, womit er zuvor in den Medien so angegeben hatte. Das Gegenteil geschah – und dafür gibt es nicht nur in der Presseerklärung des Weißen Hauses einen Hinweis. Dort heißt es nämlich in unmittelbarem textuellen Zusammenhang mit der Diskussion um die Ukraine-Krise:
"Die beiden Präsidenten beauftragten ihre Teams, weiter daran zu arbeiten, und die USA werden dies in enger Abstimmung mit Verbündeten und Partnern tun."
Auch von anderen offiziellen US-Stellen hat es im Fall einer russischen Militärintervention in der Ukraine keine Androhung oder Andeutungen von militärischen Gegenmaßnahmen der USA gegeben. Selbst der Ex-General und derzeitige Pentagon-Chef Lloyd Austin hatte sich einen Tag vor dem Gipfelgespräch zwischen Biden und Putin als ausgesprochen friedfertig gezeigt. In einem Interview für die Militärzeitschrift "Defence One" drängte ihn die kriegsgeile Journalistin Tara Copp, zur Abschreckung der Russen bezüglich der Ukraine und der Chinesen in Bezug auf Taiwan doch möglichst rote Linien der US-Militärs in den Sand zu ziehen. Aber der US-Verteidigungsminister Austin wiegelte ab und sagte, dass "in solchen Situationen … rote Linien das Problem nur verschlimmern. Ich denke, wir müssen uns darauf konzentrieren, Wege zur Deeskalation und zum Abbau von Spannungen zu finden. … Alle Spannungen in diesem Bereich sollten zuerst diplomatisch gelöst werden."
Tatsächlich weisen alle Indizien darauf hin, dass man in Washington – wie bereits in der ähnlich zugespitzten Lage im Frühling dieses Jahres – keine Anstalten macht, die Ukraine im Falle einer russischen militärischen Intervention mit US-Soldaten verteidigen zu wollen. Aus der Presseveröffentlichung des russischen Präsidialamtes geht hervor, dass Putin den US-Präsidenten und dessen um Biden herumsitzende Berater daran erinnert hat, was beide Seiten bereits beim Treffen im Frühjahr einvernehmlich unterstrichen hatten, dass nämlich eine Lösung der Krise in der Ukraine nur im Rahmen des "Abkommens Minsk II" möglich ist. Und das verlangt unverändert, dass die aus dem Putsch hervorgegangene Regierung in Kiew endlich mit den selbstgewählten Führern der abtrünnigen Regionen im Donbass direkt verhandelt, und zwar mit dem von "Minsk II" festgelegten Ziel der Schaffung einer semi-autonomen Donbass-Region als Teil einer Art "Bundesrepublik Ukraine".
Statt sich aber an diesen Minsk II-Fahrplan zu halten, hatte das ukrainische Parlament Anfang des Jahres 2021 ein Gesetz beschlossen, das die ukrainische Armee dazu verpflichtete, umgehend die Krim und den Donbass mit militärischer Gewalt zurückzuerobern. Dieses Gesetz wurde prompt vom ukrainischen Präsidenten Selenskij unterzeichnet, worauf die ukrainische Armee – ohne Zeit zu verlieren – mobil machte und massenhaft Soldaten, Panzer und schweres Gerät in Richtung Donbass und Krim in Marsch setzte.
Auf diese schwere Provokation hatte Russland reagiert und in abenteuerlich kurzer Zeit eine große, hochmobile und schlagkräftige Streitmacht etwa hundert Kilometern von der ukrainischen Grenze zum Donbass zusammengezogen. Zugleich warnte damals der russische Außenminister Sergei Lawrow die Regierenden in Kiew, wenn sie erneut den Donbass überfielen, dann würde Kiew die politische Existenz der Ukraine aufs Spiel setzen.
Angsterfüllt riefen daraufhin die ukrainischen Machthaber in Richtung Washington und NATO lautstark um Hilfe. Vergeblich, denn von ihren angeblichen US- und NATO-"Verbündeten", von denen sie zuvor zu diesem jüngsten Abenteuer ermuntert worden waren, bekamen sie nur viele warme diplomatischen Zusicherungen, aber jegliche Form von militärischer Unterstützung aus den USA oder der NATO blieb aus. Tatsächlich wurden die amerikanischen Militärberater schleunigst aus der Ukraine ausgeflogen.
Die schlimmsten Kriegstreiber in dieser Situation waren die westlichen Mainstream-Medien. Wie sie das aktuell wieder tun, taten sie damals alles, um einen Konflikt herbeizuschreiben. Vor diesem festgefahrenen Hintergrund kam auf Bitte der US-Seite das erste Telefongespräch zwischen Biden und Putin zustande, dem dann das persönliche Gipfeltreffen in Genf folgte. Schon damals scheint es den Amerikanern klar gewesen zu sein, dass sie sich von einem Krieg in der Ukraine weder einen militärischen noch diplomatischen Gewinn erhoffen konnten. Das führte dazu, dass sich Putin und Biden auf politischer Ebene einigten, auf der Grundlage von Minsk II die Ukraine-Krise zu entspannen und eine diplomatische Lösung zwischen den innerukrainischen Konfliktparteien voranzutreiben. Allerdings ist seither nichts in dieser Richtung passiert.
Die Machthaber in Kiew stellten sich offensichtlich quer. Zugleich gibt es auch in Bidens Präsidialverwaltung und im US-Kongress mächtige politische Kräfte, die mit Unterstützung der Medien eine Lösung der Ukraine-Krise entlang des zwischen Biden und Putin vereinbarten Weges hintertreiben. Womöglich wird Bidens innenpolitische Position zur Ukraine auch noch durch das sehr enge finanzielle Verhältnis geschwächt, das sein Sohn Hunter mit der ukrainischen Öl- und Gasindustrie eingegangen war. Dabei waren Zahlungen von Millionen US-Dollar ohne offensichtliche Gegenleistung in die Taschen von Biden Junior geflossen – und böse Zungen unter den Republikanern behaupten gar, auch Papa Biden habe davon profitiert. Der war damals als US-Vize-Präsident von Barack Obama häufig im neuen US-Vasallen-Staat Ukraine, um dort nach dem "Rechten" zu sehen.
An der grundlegenden internationalen Problematik der Ukraine hat sich also seit der Krise im Frühjahr 2021 nichts geändert. Stattdessen haben die Regierenden in Kiew in den letzten Monaten die Spannungen mit neuen Artillerie-Überfällen und Drohnenangriffen auf Stellungen der Verteidiger der Donbass-Region wieder verschärft. Dahinter stecken die sogenannten "ukrainischen Freiwilligen-Bataillone" – ein beschönigender Ausdruck der Mainstream-Medien für die Russen hassende Extremisten und Faschisten, die in der Ukraine eine Armee innerhalb der regulären Armee bilden und weitgehend ungehindert so operieren können, wie sie wollen.
Derweil hat die russische Seite bereits im Vorfeld des Putin-Biden-Treffens zwei weitere rote Linien in der Ukraine-Krise markiert: Erstens, dass ein erneuter Angriff der ukrainischen Armee oder der faschistischen und nationalistischen Brigaden gegen den Donbass nicht toleriert werden wird. Das Gleiche gilt zweitens für eine Stationierung von US-Militäreinheiten mit schwerem Gerät und weitreichenden Waffen auf ukrainischem Gebiet.
Zusammenfassend kann man sagen, dass aus den Presseerklärungen zum Online-Gipfelgespräch und den Reden und Stellungnahmen beider Seiten vor und nach dem Gespräch hervorgeht, dass man in Washington – genau wie bereits im Frühling – eine militärische Intervention zum Schutz der Ukraine ablehnt. Genau das hat Präsident Biden nun laut einer jüngsten Meldung aus den USA in einem Gespräch mit Reportern bestätigt.
Demnach hat Biden am Mittwoch dieser Woche gesagt, dass die Vereinigten Staaten nicht erwägen, Truppen in die Ukraine zu entsenden – selbst wenn es zu einer russischen Militärinvasion käme. "Das ist nicht auf dem Tisch", wird Biden wörtlich zitiert. "Wir haben eine moralische Verpflichtung und eine rechtliche Verpflichtung gegenüber unseren NATO-Verbündeten, wenn sie nach Artikel 5 angegriffen würden, es ist eine heilige Verpflichtung. Diese Verpflichtung erstreckt sich nicht auf ... die Ukraine", sagte er. Offensichtlich als Gesichtswahrung seiner Administration fügte er dann noch hinzu, dass das, was die USA tun werden, würde auch "davon abhängen, was der Rest der NATO-Länder zu tun bereit ist". Die Idee, dass die USA "einseitig Gewalt anwenden würden, um Russland zu konfrontieren", wenn sie in die Ukraine einmarschieren würden, lehnte er strikt ab – wohl wissend, dass die NATO sich auf einen Krieg mit Russland wegen der Ukraine nicht wird einigen können.
Die Schlussfolgerung aus all dem lautet, dass in dieser heutigen, umgekehrten "Kuba-Krise" die Russen die stärkeren "Argumente" haben und sich die Machthaber in Kiew wohl ihre Träume von einer NATO-Mitgliedschaft ein für alle Mal abschminken können. Denn bevor es soweit kommen könnte, hätte Russland bereits eingegriffen und die Ukraine hätte aufgehört, in ihrer gegenwärtigen politischen Form zu existieren. Und auf militärische Hilfe von den USA samt NATO würde Kiew vergeblich warten.
Eine weitaus bessere Zukunft wäre es nicht nur für die Ukraine, sondern auch für Ost und West, wenn die Ukraine – entsprechend dem Vorbild Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg – weder der einen noch der anderen Seite zugehören würde. Österreich wurde damals neutral und ist damit bis heute nicht schlecht gefahren. Eine solche Lösung wäre auch für Russland akzeptabel. Warum also nicht auch für die NATO, die EU und die USA?
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