Dr. Leo Ensel, Leo Ensel, Konfliktforscher und interkultureller Trainer ("Look at the other side!") mit Schwerpunkt postsowjetischer Raum und Mittel-/Osteuropa, gab RT ein Interview zum Thema "angebliche russische Bedrohung für die Ukraine". Das von den Regierungen und Massenmedien der NATO-Staaten an die Wand gemalte Szenario eines angeblich in Vorbereitung befindlichen Überfalls auf die Ukraine seitens Russlands demontierte er mit Argumenten. Besonders die jüngsten russischen Truppenbewegungen, die als Beweis dafür bemüht werden, entlarvte er als Popanz.
An den Haaren herbeigezogen – über Hunderte Kilometer
Zur angeblichen Invasionsbedrohung, die laut den NATO-Staaten und der Kiewer Regierung seitens Russlands aktuell für die Ukraine ausgehe, kam Ensel nicht herum, mit die härtesten Fakten sprechen zu lassen – die geographischen. Die Stadt Jelnja, in deren Umgebung Russland laut diversen Daten größere Truppenaufgebote zusammenziehe, "befindet sich in der Region Smolensk und ist von der ukrainischen Grenze 400 Kilometer Luftlinie entfernt – und von den Rebellenrepubliken im Donbass sogar 1.000 Kilometer", hielt der Wissenschaftler fest. Da wäre sogar eine (auch schon jenseits jeder Maße abstruse) Behauptung glaubwürdiger, impliziert der Wissenschaftler, Russland wolle seinen Partner in Weißrussland überfallen:
"Von der Grenze zu Weißrussland ist es nur 200 Kilometer entfernt. So viel also einmal zu dem 'Truppenaufmarsch' Russlands an der Grenze zur Ukraine."
Der Konfliktforscher vertritt den Standpunkt, dass das von den westlichen Mainstreammedien und Regierungen an die Wand gemalte Szenario eines russischen Überfalls auf die Ukraine "überhaupt nicht realistisch" sei. Schon deshalb nicht, weil eine Invasion Russlands eigenen Interessen schaden würde – RT erinnert hier nur daran, dass Russland bei einer militärischen Operation gegen die Ukraine mit absoluter Sicherheit zahlreiche Flüchtlinge aufnehmen müsste, wie es bereits infolge Kiews "Anti-"Terroroperation gegen die eigene Bevölkerung im Donbass geschehen ist:
"Russland hat nicht das geringste Interesse, die Ukraine anzugreifen. Das würde Russland selbst großen Schaden zufügen. Und Russland hat sich bis jetzt nicht aggressiv gezeigt. Deswegen auch so wichtig, dass sich nicht diese Deutung durchsetzt."
"Ich halte es für ausgeschlossen, dass Russland die Ukraine angreift – Punkt."
Dies war dem Konfliktforscher das beste Beispiel dafür, wie wichtig die Interpretationsweise ist, mit der jeweils an bestimmte Ereignisse herangegangen wird – weil bestimmte Auslegungen ein- und derselben Ereignisse Eskalationsrisiken bergen:
"Noch größer als die Risiken, die durch zusammengezogene Truppen und Waffen entstehen können, sind die Risiken aus bestimmten Interpretationen der Ereignisse."
Hierbei bemängelte Ensel die im Westen einseitig überwiegende Deutung der Manöver, die Russland legitimerweise auf eigenem Boden (und zudem in der besagten, respektablen Entfernung von der Ukraine) durchführt, als Vorbereitungen eines Einfalls in die Ukraine:
"Also, setzt sich beispielsweise eine Deutung durch, wie sie im Westen im Moment immer stärker in den Medien zu finden ist, Russland werde demnächst in die Ukraine einmarschieren, dann ist natürlich eine Eskalation vorprogrammiert."
"Würde sich eine Deutung durchsetzen, Russland organisiert ein Manöver auf dem eigenen Staatsgebiet, was Russland niemand verdenken kann, würden sich ganz andere Konsequenzen anbieten."
Tägliche Arbeit an Entspannungspolitik ist notwendig: "Nicht nur Fridays for Future – wir bräuchten Sundays for De-escalation"
Der Wissenschaftler deutete die überaus wichtige Rolle politischer Gesprächsformate zwischen den Beteiligten beim Erarbeiten diesbezüglicher konstruktiverer Deutungsweisen an – Formate in Beziehungen, die, um es mit den Worten des russischen Außenministers Sergei Lawrow auszudrücken, nicht katastrophal, sondern nunmehr nichtexistent sind:
"Also, ganz entscheidend ist, welche Interpretation sich durchsetzt – und dazu wäre es ganz wichtig, dass beide Seiten wieder in Kontakt miteinander kommen würden. Das größte Problem ist ja, dass das gesamte Vertrauensverhältnis zwischen Russland und dem Westen in den letzten Jahren, allerspätestens seit der Ukraine-Krise, aber [eigentlich] schon viel früher, zerstört worden ist – und dass es fast keine Gesprächsformate mehr gibt."
Erst recht sind, so Ensel, Gesprächskontakte dafür wichtig, eine dringend nötige Deeskalation im Ukraine-Konflikt herbeizuführen, damit er nicht erneut aufflammt:
"Die wichtigste Voraussetzung für Deeskalation ist, dass beide Seiten überhaupt wieder Kontakt miteinander aufnehmen! Und dass wieder Gesprächsformate erstellt werden, die belastbar und krisenfest sind!"
Zu einer langfristigen Normalisierung der Lage würde eine bloße Deeskalation indes mitnichten ausreichen:
"Das ist sozusagen nur die Erste Hilfe. Mittelfristig brauchen wir ganz dringend eine neue Entspannungspolitik – und wir brauchen vor allen Dingen auch eine kritische Öffentlichkeit, die sich für eine neue Entspannungspolitik in allen direkt wie mittelbar betroffenen Ländern einsetzt."
Eine solche Entspannungspolitik – RT erinnert – ließ allerdings gerade der kollektive, US-geleitete Westen seit kurz nach Zusammenbruch der Sowjetunion schmerzlich vermissen. Der Konfliktforscher deutet an: Um eine weitere Zuspitzung der Ost-West-Beziehungen nicht nur in Bezug auf die Ukraine zu vermeiden, muss eine solche Entspannungspolitik Alltag werden – zunächst wenigstens für die zivile Öffentlichkeit.
"Vor 40 Jahren gab es im westdeutschen Staat eine starke Friedensbewegung. Wir brauchen nicht nur Fridays for Future – wir bräuchten auch so etwas wie Sundays for De-escalation."
Leo Ensel erläutert seine im Interview geäußerten Thesen ausführlicher in seinem Essay "Die Ukraine, der Westen und Russland - oder: Deeskalation, jetzt!"
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