Das Vereinigte Königreich kündigte Ende letzter Woche an, sein Militär werde das ständige Aufgebot an Truppen und Panzerfahrzeugen in Deutschland verstärken – dies wohlgemerkt nur ein Jahr nach der Reduzierung seiner 20.000 Mann starken, noch aus der Zeit des Kalten Krieges stammenden Militärpräsenz im Lande. Britische Medien schrieben einhellig, dass dies angesichts der "russischen Bedrohung" geschehe.
In diese Richtung gab zum Beispiel der Nachrichtensender Sky News die Worte des britischen Verteidigungsministers Ben Wallace wieder, der das Modernisierungsprogramm "Future Soldier" im Rahmen der Militärreformen in der Unterkammer des Parlaments vorgestellt hatte. Derzeit führt das britische Verteidigungsministerium eine breit angelegte militärische Modernisierungskampagne durch, die die britischen Streitkräfte zwar kleiner, dafür aber hochtechnologischer und agiler machen soll.
Dem letzten Punkt soll auch mit der Einrichtung dreier neuer Logistikzentren für die Landstreitkräfte entsprochen werden – je einer in Kenia, einer im Oman und schließlich einer in Deutschland, am den Briten bestens bekannten Standort Sennelager. Bezweckt wird damit, mehr britische Truppen für längere Zeit in verschiedenen Teilen der Welt stationiert halten zu können. So würden Trainingseinsätze mit monate- statt nur wochenlanger Dauer möglich, was die "Beziehungen zu Verbündeten stärken" würde.
Die Stationierung näher am möglichen Kriegsschauplatz wiederum würde es ermöglichen, "Bedrohungen durch Staaten wie Russland und China abzuschrecken" und "schneller auf einen Angriff Russlands – oder auch jeden anderen Staates – auf einen europäischen NATO-Mitgliedsstaat reagieren" zu können. Der Standort in Deutschland solle Panzer und andere militärische Panzerfahrzeuge beherbergen, insgesamt 250 an der Zahl – zuzüglich verschiedentlicher Lkw und Infrastruktur. Von dort aus sollen die britischen Truppen samt ihrem Kriegsgerät auch zu Übungen mit den Truppen anderer NATO-Partner ausrücken. Die britische Sunday Times schrieb – ebenfalls mit Verweis auf hochrangige britische Militärs –, mit der neuen Präsenz von "Hunderten von Fahrzeugen, darunter Panzer und Drohnen" in Deutschland solle der "brigadegroße Truppenverband" näher an Osteuropa sein, und zwar ausdrücklich "für den Fall eines Krieges mit Russland".
Dies könnte etwa bei "einer Wiederholung der Ereignisse von 2014/2015 auf der Krim und in der Ukraine" eintreten, betont der rechtskonservative Journalistenblog Zero Hedge, und dann wären britische Eingreiftruppen "theoretisch viel schneller einsatzbereit".
Obwohl es keine konkreten Beweise gibt, beschuldigen sowohl die Regierung in Kiew als auch der kollektive Westen unter Washingtons Führung den Kreml weiterhin, einen Einmarsch in die Ostukraine vorzubereiten. Nach wie vor wird dabei auf die jüngste russische Truppenaufstockung von etwa 92.000 Mann in der grenznahen (aber gerade vom Osten der Ukraine mit knapp 1.000 Kilometern für einen plötzlichen Überfall dann doch etwas weit entfernten) Region Smolensk verwiesen. Moskau hält dem entgegen, ob seine Truppen nun in die Nähe der Ukraine oder der Krim oder wohin auch immer innerhalb der russischen Grenzen verlegt würden, gebe dem Westen keinen Grund zur Beunruhigung.
Britischer Truppenumschlagepunkt in Deutschland wird Konfliktrisiko mit Russland erhöhen
Gründe zur Beunruhigung sieht man allerdings in Russland angesichts der britischen Pläne. Zwar wird der neue Stützpunkt mit der früheren britischen Präsenz in der BRD im Kalten Krieg kaum zu vergleichen sein – einige, auch westliche Kritiker halten das ganze Unterfangen ohnehin für kaum mehr als einen Akt des symbolischen Muskelspiels gegenüber Moskau. Der RT-Journalist Bryan MacDonald etwa schreibt:
"Glaubt London denn ernsthaft, dass a) Russland in Deutschland einmarschieren wird (zweitgrößter Abnehmer seiner Exporte) & b) ein paar Hundert britische Soldaten die russische Armee aufhalten würden? Hier geht es ganz klar darum, Boris Johnsons Erhöhung der Verteidigungsausgaben um 21,9 Milliarden Dollar zu rechtfertigen."
Doch wie zutreffend derartige Bemerkungen auch sein mögen – Russlands Besorgnis ist durch einen gänzlich anderen Aspekt der Aufstockung bedingt: Wie Sky News (nochmals, mit Verweis immerhin auf den britischen Verteidigungsminister) berichtete, könnten die rund 250 Panzer und Panzerfahrzeuge und deren Besatzungen von Deutschland aus umso leichter etwa nach Estland verlegt werden. Dort hatte das Vereinigte Königreich in den letzten fünf Jahren die Führung eines 1.000 Mann starken Kampfverbands, bestehend aus Truppen verschiedener NATO-Staaten, im Rahmen einer "Mission zur Abschreckung russischer Aggressionen" inne. The Times schreibt wiederum von geplanten Truppen-Blitzverlegungen von Sennelager aus auch nach Polen.
Somit bedeutet diese Aufstockung des britischen Truppenkontingents in Deutschland auch eine Aufstockung des NATO-Kontingents unmittelbar an Russlands Grenzen – und ein Anwachsen des Zwischenfallrisikos. So teilte der russische Botschafter in Großbritannien Andrei Kelin seinen überaus kritischen Standpunkt zu den britischen Plänen bei einem Interview mit Times Radio mit:
"Leider fügt sich dieser Beschluss in den Lauf der NATO-Politik der letzten Jahre ein. Die NATO baut ihre militärische Präsenz entlang der russischen Grenzen aus, führt Manöver im Schwarzen Meer und der Ostsee durch. Strategische Bomber mit Nuklearwaffen an Bord flogen 20 Kilometer von russischen Staatsgewässern entfernt vorbei, das ist gefährlich. Daneben war da jüngst auch der Vorfall mit dem britischen Kriegsschiff, das in unsere Staatsgewässer eindrang. Solche Schritte sind einem Spannungsabbau nicht förderlich."
Er kommentierte (hier zitiert von der russischen Nachrichtenagentur TASS) auch die Aussage des britischen Generalstabschefs Nick Carter, die aktuellen Spannungen zwischen Russland und dem Westen könnten "wegen eines beliebigen Zufalls" zu einem offenen Konflikt führen:
"Ja, ich stimme zu, es gibt das Risiko des Krieges wegen Fehlkalkulationen an unserer Grenze – und das ist das Letzte, das wir uns wünschen."
Da nun aber die britischen Truppen bei diesem geplanten Auslandsdauereinsatz ausdrücklich gemeinsame Übungen und Manöver mit den Truppen anderer NATO-Staaten führen sollen (und dies wohl kaum nur in Deutschland, sondern eben auch im erwähnten Estland und überhaupt im Baltikum), ist mit einer hohen Wahrscheinlichkeit solcher Fehlkalkulationen und anderer "beliebiger Zufälle" zu rechnen.
Ein Risiko solcher Zufälle bringen die britischen Soldaten bereits durch ihr kolonialistisches Gebaren mit: So wurden erst im Juni 2021 sechs britische Soldaten aus dem Zug geworfen, weil Mitreisende Angst vor ihrem Verhalten bekamen; einen Monat zuvor waren die Raufbolde Ihrer Majestät in einen Streit mit Einheimischen in der estnischen Stadt Tapa verwickelt gewesen, weil einer von ihnen sich wohl zu aufdringlich einer estnischen Frau genähert hatte.
Der erstgenannte Vorfall wurde von der einflussreichen US-Lobbygruppe Brookings Institution als möglicherweise von "Putins Agenten" konstruiert dargestellt. Nicht auszumalen, wer sonst zu einer solchen Meinung gelangen könnte, falls die Einwohner der baltischen Staaten von den Briten einmal so weit provoziert werden, dass sie etwa zu Jagdwaffen greifen. Dieselbe Gefahr ginge auch von jedem größeren Streit unter verbündeten NATO-Soldaten selbst wie im Jahr 2020 in Polen zwischen den Gastgebern und US-Truppen aus – für eine Auslegung wie die geschilderte müssen sie, wie das obige Beispiel zeigt, ihre gemeinsamen Übungen nur nahe genug an Russlands Grenzen abhalten.
Außerdem sei hier an einige weitere ernsthaftere Vorfälle erinnert, die sich bei gemeinsamen Aktionen der NATO-Partner ereigneten: Beim gemeinsamen NATO-Manöver Trident Juncture 2018 kam es angeblich zu einem Ausfall des Satellit-Navigationsdienstes GPS bei beteiligten NATO-Partnern und finnischen Truppen. Dieser angebliche Ausfall war zunächst Russlands EloKa-Einheiten (Elektronische Kampfführung) angelastet worden, bis die Bundeswehr (und damit dem immerhin zweitgrößten Truppenkontingent bei der Übung) angab, von einem GPS-Ausfall nichts gemerkt zu haben.
Dieses Manöver fand in Schweden und Norwegen sowie im an Russland angrenzenden Finnland statt – zu Lande und in der Luft; die Seekomponente der Übung erfasste neben dem Skagerrak, der Nordsee und norwegischen Hoheitsgewässern auch einige Gebiete der Ostsee, zu deren Anrainern auch Russland zählt. Unmittelbar nach derselben Übung kollidierte die norwegische Fregatte KNM Helge Instad mit einem Tanker unter maltesischer Flagge. Die Mannschaft des schwerfälligen, trägen Lastschiffes hatte die Besatzung der Fregatte per Funk dringend zur Kursänderung aufgefordert – angemessene Reaktionen blieben aus. Infolge der Kollision wurden mehrere norwegische Seeleute verletzt, und das Kriegsschiff sank. Ein solcher Vorfall hätte denkbar sehr leicht eskalieren können, hätte der Tanker nicht Maltas Flagge am Mast gehabt, sondern Russlands.
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Ein weiterer Vorfall, der ebenfalls hohes Eskalationsrisiko barg, war das versehentliche oder maschinenfehlerbedingte Abfeuern einer Luftabwehrrakete durch ein spanisches Kampfflugzeug im estnischen Luftraum im August 2018. Die an Russland grenzenden NATO-Staaten Estland, Lettland und Litauen haben keine eigenen Kampfjets. Deshalb sichern die Verbündeten im Zuge des "NATO Air Policing Baltikum" schon seit dem Jahr 2004 den baltischen Luftraum. Schon dadurch, dass man in Russland nicht zwingend in jedem Moment wissen kann, wem ein Militärflugzeug über den Staatsgebieten des baltischen Dreigestirns gehört, könnte die Konfliktentwirrung bei einem nächsten solchen Zwischenfall, bei dem von einem solchen Flugzeug aus eine Rakete oder Bombe durch den russischen Luftraum fliegt, sehr kompliziert sein – und deswegen sind derartige Zwischenfälle dort viel gefährlicher.
Überhaupt scheinen in Bezug auf Vorfälle, die sich sonst noch zwischen NATO-Verbündeten abspielen können, der Fantasie keinerlei Grenzen gesetzt zu sein. Erst im Sommer des Vorjahres kam es im Mittelmeer zu einer Konfrontation zwischen Kriegsschiffen der Partner Türkei und Frankreich: Ein türkisches Kriegsschiff soll mehrfach ein französisches mit Feuerleitradar angestrahlt haben. Da solche Systeme in der Regel nur benutzt werden, um Zieldaten für den Gebrauch von Waffensystemen zu liefern, war dies von Frankreich als "extrem aggressiv" gewertet und beim folgenden NATO-Verteidigungsministertreffen angesprochen worden.
Wie man sieht, besteht in den Plänen des britischen Verteidigungsministeriums, sein Truppenkontingent in Deutschland um eine Brigade aufzustocken, das ernst zu nehmende Risiko eines Grenzvorfalls und damit einer bewaffneten Auseinandersetzung der NATO mit Russland.
Doch dies scheint die gesamte NATO-Führung momentan wenig zu kümmern, bedauert Russlands Botschafter im Vereinigten Königreich. Kelin betonte, dass die Leitung des russischen Generalstabs in Verhandlungen mit US-Kollegen steht, als deren Ergebnis die zwischen den Seiten bestehenden "Spannungen abgebaut" werden sollen:
"Derartige Verhandlungen sind fortzusetzen, wir müssen eine Deeskalation erreichen. Unsererseits gibt es auch Angebote – doch sie müssen erst [von der Gegenseite] analysiert werden, und dann müssen wir eine Antwort auf sie erhalten. Bislang ist eine solche Antwort leider ausgeblieben."
Es scheint allerdings, als würde eine Antwort – falls überhaupt eine kommt – wenig erbaulich ausfallen. Kelin machte darauf aufmerksam, dass NATO-Mitgliedsstaaten in letzter Zeit ihre Desinformationskampagnen gegen Russland intensivierten. Bestes Beispiel seien Berichte über den angeblich bevorstehenden Einmarsch Russlands in die Ukraine. Der Diplomat vertrat die Ansicht, solche Informationseinwürfe "werden für eine Verlegung von NATO-Truppen an die russische Grenze benutzt".
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