von Rainer Rupp
"Die Regierung der Vereinigten Staaten hält es für völlig vernünftig – oder zumindest für 'nicht unvernünftig' –, eine unschuldige Familie von Zivilisten zu töten." Diesen erstaunlichen, aber leider zutreffenden Satz konnte man am 4. November auf einer viel gelesenen Webseite eines der beliebtesten US-Finanzportale lesen, nämlich bei Yahoo Finance. Unter dem ins Deutsche übersetzten Titel: "Ein Drohnenangriff – Wieder einmal rechtfertigen die USA etwas, das durch nichts zu rechtfertigen ist" erklärt der Autor Joel Mathis:
"Wenn das brutal klingt, bedenken Sie Folgendes: Eine Pentagon-Überprüfung des Drohnenangriffs im August (2021), bei dem zehn Mitglieder einer afghanischen Familie während des US-Abzugs aus Kabul zu Unrecht getötet wurden, ist zu dem Schluss gekommen, dass niemand im Militär für den Angriff diszipliniert werden sollte. Das Massaker, das General Mark Milley (der ranghöchste Offizier der USA) zunächst als 'gerecht' bezeichnet hatte, war ausgesprochen ungerecht, aber die offizielle Überprüfung des Vorgangs ergab, dass der Prozess zur Entscheidung zum Angriff geführt hatte, in Ordnung war. Es ist das Resultat, das schlecht geworden ist."
Und für das schlechte Ergebnis konnte natürlich niemand etwas. So zumindest lautete auch der Schluss des US-Luftwaffengenerals Sami Said, der die Untersuchung des vermeidbaren Massakers in Kabul geleitet hatte, bei dem Herr Zemerai Ahmadi und neun weitere unschuldige Mitglieder seiner Familie von einer US-Rakete in Stücke gerissen worden waren. Dabei handelte es sich nicht um einen Unfall, wie z. B. wegen eines Raketenirrläufers, oder einen tragischen Fehler aufgrund falsch eingegebener Zielkoordinaten.
Vielmehr wurde die Apartmentwohnung von Herrn Ahmadi samt Bewohnern aufgrund schlampiger nachrichtendienstlicher Aufklärung und eines Cowboy-Schnellschusses aus der Hüfte zur Zerstörung preisgegeben. Das ist das Resultat der im US-Militär herrschenden "Kultur" der Straflosigkeit bei der Tötung von Zivilisten. Trotz der Existenz gegenteiliger Gesetze und entsprechender Pro-forma-Verhandlungen vor US-Militärgerichten bei schwereren Fällen sorgt diese im US-Militär tief verwurzelte "Un-Kultur" dafür, dass die schuldigen US-Soldaten und Offiziere nicht zur Verantwortung gezogen werden.
Dementsprechend fiel auch die Erklärung des US-Luftwaffengenerals Sami Said aus, als er gegenüber Associated Press zur Tötung von Familie Ahmadi Stellung nahm:
"Ich fand heraus, dass sie (also die Verantwortlichen, die das Ziel ausgewählt und die Killerrakete zum Abschuss freigeben hatten, Anmerkung das Autors) angesichts der Informationen, die sie hatten, und der Analyse, die sie gemacht haben, die falsche Schlussfolgerung gezogen haben, aber ... War es vernünftig, auf der Grundlage dessen, was sie hatten, die Schlussfolgerung zu ziehen, die sie gezogen haben? Es war nicht unvernünftig!", schloss der Generalleutnant der US Air Force und fügte hinzu: 'Es stellte sich einfach heraus, dass es falsch war'."
Das hört sich an wie "Oh, dumm gelaufen, aber da kann man nix machen". Angesichts der zehn Toten, die meisten davon waren Kinder, ist diese respektlose, schnodderige Art des US-Luftwaffengenerals Said dennoch typisch für den Umgang des Pentagons mit katastrophalen humanitären Folgen von vermeidbaren Fehlern. Allerdings kann General Said damit mit viel Verständnis und Sympathie rechnen, nicht nur beim US-Militär, sondern auch in breiten Bevölkerungsschichten des humanitären Vorbildstaates USA.
Es wäre eventuell noch nachvollziehbar, wenn Menschen versuchen würden, dieses Massaker an der Ahmadi-Familie mit dem in Kabul während des überhasteten US-Rückzugs herrschenden Chaos als bedauernswerten Unfall zu entschuldigen. Aber diese Vorgehensweise des US-Militärs ist kein Einzelfall, sondern vielfach eingeübte Routine. Selbst bei den als so sicher und präzise gelobten Drohnenangriffen ist es immer wieder zu katastrophalen Fehlern gekommen, die das Leben von vielen Tausenden unschuldiger Menschen gekostet haben.
Auch das bekannteste US-Drohnenmassaker bei einer Hochzeitsfeier in einem abgelegenen afghanischen Dorf, bei dem 53 Menschen getötet und viel mehr verkrüppelt wurden, blieb kein Einzelfall. Laut dem Londoner "Bureau of Investigative Journalism" haben die USA im Zeitraum Januar 2004 bis Februar 2020 bei 14.040 Einsätzen von Killerdrohnen in Pakistan, Afghanistan, Jemen und Somalia auch immer wieder mal Hochzeitsgesellschaften angegriffen und bis zu 454 Kinder getötet.
Aber Folgen für die Täter gab es nie. Weder wurden die Drohnenpiloten vor ihren Video-Monitoren noch die Kriegsverbrecher an ihren Schreibtischen zur Verantwortung gezogen. Vor allem seit Beginn des hochkriminellen US-"Krieges gegen den Terror" sind in den letzten zwei Jahrzehnten Massaker an unschuldigen Zivilisten, vor allem an Frauen und Kindern, zur alltäglichen Routine der US-Kriegsmaschine geworden.
Laut einer neuen Analyse von "Airwars", einer US-Gruppe für die Überwachung ziviler Schäden durch US-Luftkriege, sind seit dem 11. September 2001 im Rahmen des "US-Krieges gegen den Terror" bei US-Drohnen- und Luftangriffen mindestens 22.000 Zivilisten – und vielleicht sogar 48.000 – getötet worden. Diese Analyse basiert auf der eigenen Behauptung des US-Militärs, das seit 2001 fast 100.000 Luftangriffe durchgeführt hat.
Die "Airwars"-Gruppe räumt selbst ein, dass die Zahl der Todesopfer durch US-Luftangriffe ungenau ist, und merkt an, dass laut einer Erklärung des Pentagons das US-Militär nie versucht habe, die Gesamtzahl der zivilen Todesfälle zu zählen, die auf Aktionen des US-Militärs im Krieg gegen den Terror zurückgehen. In einer E-Mail-Antwort des Zentralkommandos (CENTCOM) des Pentagons an "Airwars" hieß es, dass es keine Informationen über die Gesamtzahl der zivilen Todesopfer durch Luftangriffe habe.
Auch hält die obere Zahl der Bandbreite der Airwars-Schätzung von 22.000 bis 48.000 getöteten Zivilisten einem Vergleich mit der weitaus umfassenderen Forschungsarbeit einer Gruppe an der US-amerikanischen Brown University nicht stand. Das "Costs of War Project" der Brown University hat über die letzten zwanzig Jahre nicht nur die offiziellen Zahlen des Pentagons über vermutliche zivile "Kollateralschäden" gesammelt, sondern auch in mühsamer Arbeit lokale Berichte aus den betroffenen Ländern über die US-Luftangriffe und ihre Folgen analysiert und kam so auf die Zahlen von schätzungsweise 387.000 getöteten Zivilisten. Aber wenn die Kläger kein Gehör finden, dann gibt es auch keine Angeklagten.
Wie viele andere große und kleine Massaker an Zivilisten durch die US-Streitkräfte wäre auch die Auslöschung der zehnköpfigen Familie von Herrn Ahmadi in Kabul vor der US- und Weltöffentlichkeit verborgen geblieben, wenn zu diesem Zeitpunkt nicht der Fokus der internationalen Medien auf dem Chaos des Abzugs der US-Armee und ihrer verbündeten NATO-Vasallen gelegen hätte. Der Drohnenangriff auf die kinderreiche Familie Ahmadi war einfach der gewesen, der plötzlich große mediale Aufmerksamkeit erregt hat.
"Es hat im Laufe der Jahre unzählige solcher Luftschläge gegeben und so viele absichtlich ungezählten Todesfälle, die im Schatten der Angriffe passiert sind", kommentierte Matt Duss, der außenpolitische Berater des demokratischen US-Senators Bernie Sanders, am 3. November auf Twitter die Entlastung der verantwortlichen Täter durch die Top-Offiziere des Pentagons für die Tötung der Familie Ahmadi.
Diese seit Langem innerhalb der US-Streitkräfte gepflegte Kultur der Straffreiheit bei Massakern an Zivilisten erhöht bei den Verantwortlichen natürlich nicht die Neigung zur sorgfältigen Prüfung der Zielauswahl und Abwägung eventueller "ziviler Kollateralschäden" in Form von toten Frauen und Kindern. Es ist dieser verantwortungslose, laxe Umgang des US-Militärs mit dem Wert des Lebens der Menschen der Gegenseite, egal ob Soldat oder Zivilist, der in der gesamten US-Militärgeschichte eine endlose Kette von Kriegsverbrechen aneinanderreiht.
Es begann mit dem Genozid an der nordamerikanischen Urbevölkerung. Die jeweils von höchster politischer und militärischer Führung gebilligte und teilweise sogar befohlene willkürliche Zerstörung von menschlichem Leben war dann auch im Amerikanischen Bürgerkrieg omnipräsent und manifestierte sich mit den Massakern an gefangenen Soldaten und Zivilisten der jeweiligen Gegenseite. Mit nicht minderer Brutalität wurden die ersten imperialistischen Abenteuer der USA bei der Eroberung der Philippinen durchgeführt.
Auch nach dem sogenannten "Guten Krieg" gegen Nazi-Deutschland und Japan hat das US-Militär auf Befehl der höchsten politischen Führung ohne militärische Notwendigkeit jeweils eine Atombombe gegen die Zivilbevölkerung von Hiroshima und Nagasaki eingesetzt. Auch im Koreakrieg ging das Massenmorden an der Zivilbevölkerung weiter, wofür beispielhaft das Massaker von Nogeun-ri steht, was später in Vietnam mit der Ermordung aller Einwohner von Mỹ Lai 1968 fortgesetzt wurde, wobei die Vorgehensweise der US-Soldateska in Mỹ Lai der der SS-Schergen bei der Vernichtung sämtlicher Einwohner des französischen Dorfes Oradour 1944 in nichts nachsteht.
Dabei sind sowohl Nogeun-ri als auch Mỹ Lai nur die Spitze des Eisbergs. Sie stehen stellvertretend für viele andere Dörfer, die samt ihrer Einwohner auf ähnliche Weise ausgelöscht wurden, deren Schicksal jedoch bis heute vor der westlichen Öffentlichkeit verborgen geblieben ist. Auch das Massaker von Nogeun-ri wurde erst knapp 50 Jahre nach der Tat im Herbst 1999 im Westen bekannt, und auch dort war es den meisten Medien – wenn überhaupt – nur eine Randnotiz wert.
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