Afghanistan leidet unter einer Dürre, und die global steigenden Preise für Lebensmittel verschlimmern das Problem ebenso wie die Folgen des Krieges. Der Direktor des Welternährungsprogramms (WFP) der UN, David Beasley, erklärte vor wenigen Tagen:
"Afghanistan ist jetzt eine der schlimmsten, wenn nicht die schlimmste humanitäre Krise weltweit, und die Nahrungssicherheit ist fast völlig zusammengebrochen. Diesen Winter werden Millionen Afghanen zwischen Migration und Verhungern wählen müssen, wenn wir unsere lebensrettende Unterstützung nicht steigern können und wenn die Wirtschaft nicht wiederbelebt werden kann. Wir befinden uns im Countdown zu einer Katastrophe, und wenn wir jetzt nicht handeln, werden wir vor einem totalen Desaster stehen."
Nach Angaben des WFP leiden mindestens 3,2 Millionen Kinder unter fünf Jahren in Afghanistan akuten Hunger. Dabei ist infolge hoher Arbeitslosigkeit und eines Mangels an verfügbarem Geld auch die Stadtbevölkerung betroffen. In ländlichen Gebieten sind 7,3 Millionen Afghanen von den Folgen der zweiten Dürre in vier Jahren betroffen.
Das WFP will im Jahr 2022 23 Millionen Menschen in Afghanistan mit Lebensmitteln versorgen. Dies wäre eine Verdopplung der Zahlen des laufenden Jahres, in dem bereits über 10 Millionen Afghanen über das WFP ernährt werden. Dafür benötigt werden allerdings 220 Millionen Dollar pro Monat.
Die Not in Afghanistan ist aber nicht nur die Folge von Dürre, Krieg und den ökonomischen Schäden durch COVID-19. Nach Angaben der Weltbank besitzt Afghanistan ein Auslandsvermögen von 10 Milliarden Dollar, vor allem auf US-amerikanischen und europäischen Konten. Nur – auf diese Mittel kann die Regierung der Taliban nicht zugreifen, da die Konten gesperrt wurden. Jetzt fordern die Taliban die Freigabe dieser Mittel, die schließlich Eigentum des afghanischen Volkes sind.
Nach Angaben von Shah Mehrabi, einem Mitglied des Vorstands der afghanischen Zentralbank, sind allein in Deutschland 431 Millionen Dollar an Zentralbankreserven auf einem Konto der Commerzbank eingefroren, und weitere 94 Millionen bei der Bundesbank. In Basel, bei der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, liegen etwa 660 Millionen.
Stünden diese Gelder zur Verfügung, könnte Afghanistan selbst Maßnahmen zur Besserung der Lage ergreifen. Die Steuereinnahmen, auf die die Regierung zurückgreifen könnte, betragen nur 4,4 Millionen Dollar täglich. Die USA haben zwar weitere 141 Millionen Dollar an Nothilfe für humanitäre Organisationen zugesagt, wollen aber die Sanktionen nicht aufheben.
China, das bereits jetzt humanitäre Hilfe im Wert von 31 Millionen US-Dollar nach Afghanistan geschickt hat, unterstützt die Forderung der Taliban-Regierung, die afghanischen Auslandskonten freizugeben. So forderte der chinesische Außenminister Wang Yi in seiner Rede am 12. Oktober auf dem G20-Treffen:
"Länder, die noch unilaterale Sanktionen gegen Afghanistan verhängt haben, sollten diese baldmöglichst aufheben."
Bisher ist das nicht erfolgt. Nun hat Shah Mehrabi in einem Interview mit Reuters zumindest mit Blick auf die Europäer Klartext gesprochen.
"Europa wird am schwersten betroffen sein, wenn Afghanistan keinen Zugang zu diesem Geld erhält."
Denn die afghanische Wirtschaft werde nur als erste darunter leiden. "Wenn die Reserven eingefroren bleiben, werden afghanische Importeure nicht für ihre Lieferungen zahlen können, Banken werden zusammenbrechen, Essen wird knapp werden, Supermärkte werden leer sein," so Mehrabi, und fügte hinzu:
"Sie werden nach Europa gehen."
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