Immer wieder warnten Mediziner und Wissenschaftler in den vergangenen eineinhalb Jahren vor einem zu verengten Blick auf die Corona-Krise und kritisierten die mit dieser einhergehenden Politik als im Sinne des "Gesundheitsschutzes" zu einseitig. Ende August war es etwa der Psychoneuroimmunologe Christian Schubert, der in einem Interview mit dem Magazin Cicero Stellung bezog. "Die Kollateralschäden sind jetzt schon immens, doch eine Veränderung der Strategie ist nicht in Aussicht – ganz im Gegenteil. Die Bekämpfung des Virus ist ganz im Sinne des mechanistischen Menschenbilds und richtet sich allein auf die technischen Aspekte aus".
Zu den wenig beachteten Kollateralschäden der rigiden Maßnahmen zur Eindämmung von SARS-CoV-2 zählen nach wie vor die psychischen Wechselwirkungen von Lockdowns, Warnungen, "social distancing", immer neuen "Varianten", Angst und permanenter Sorge. Auch die Beachtung dieses Aspekts von Gesundheit wurde in den vergangenen Monaten immer wieder angemahnt, fand ihren Weg jedoch kaum in den offiziellen politischen und medialen Diskurs.
Die Deutsche Angestellten-Krankenkasse (DAK) zeigte sich Mitte des Jahres alarmiert, aufgrund der Zunahme von Depressionen und weiteren psychischen Erkrankungen während der Pandemie. Gleichzeitig stieg die Verschreibung von Antidepressiva und Schmerzmitteln in den vergangenen Jahren stark an. DAK-Chef Andreas Storm warnte:
"Was uns als Folge aus den Lockdown-Zeiten noch bevorsteht, können wir heute nur schwer abschätzen."
Nun liegt eine am Freitag im Fachmagazin The Lancet veröffentlichte Studie vor, die sich dem Phänomen annahm und den für viele Beobachter offensichtlichen psychischen Folgen konkrete Zahlen gegenüberstellte.
Nach Angaben der Forscher der australischen Universität von Queensland und der Universität von Washington hat die Zahl psychischer Erkrankungen durch die COVID-19-Pandemie weltweit enorm zugenommen. Im COVID-Jahr 2020 gab es nach Erkenntnissen der Wissenschaftler geschätzte 53 Millionen Fälle von schweren depressiven Störungen und 76 Millionen Fälle von Angststörungen zusätzlich, die auf die Viruskrise zurückzuführen seien.
Das entspreche global einer Steigerung von 28 beziehungsweise 26 Prozent. In Deutschland sei die Zuwachsrate mit jeweils knapp 17 Prozent noch vergleichsweise niedrig. Deutlich stärker war der Anstieg demzufolge etwa in Frankreich, Spanien und Italien, zeigen Daten der Forscher. Jedoch fehlten aus vielen Ländern Angaben, speziell aus Staaten mit niedrigen und mittleren Einkommen. Weitere Erhebungen seien nötig.
Die Autoren forderten Regierungen und politische Entscheidungsträger auf, dringend Maßnahmen zu ergreifen, um die psychosozialen Gesundheitssysteme weltweit zu stärken und der gestiegenen Nachfrage gerecht zu werden. So habe die Pandemie zusätzlich zu den direkten Auswirkungen von COVID-19 "ein Umfeld geschaffen, in dem viele Faktoren der psychischen Gesundheit ebenfalls betroffen sind".
"Soziale Einschränkungen, Abriegelungen, Schul- und Geschäftsschließungen, Verlust des Lebensunterhalts, Rückgang der Wirtschaftstätigkeit und die Verlagerung der Prioritäten der Regierungen bei ihrem Versuch, den Ausbruch von COVID-19 unter Kontrolle zu bringen, haben alle das Potenzial, die psychische Gesundheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen."
"Keine Maßnahmen zu ergreifen, um die Belastung durch schwere depressive Störungen und Angststörungen anzugehen, sollte keine Option sein", konstatieren die Forscher. Am schlimmsten von den psychischen Konsequenzen sind demnach jüngere Menschen betroffen.
Die fehlende Interaktion mit Gleichaltrigen, Schulschließungen und die Angst vor Arbeitslosigkeit seien wichtige Faktoren, erklärte Co-Autorin Alize Ferrari einer Mitteilung zufolge. In der Studie wird auf Erhebungen der UNESCO verwiesen, wonach "COVID-19 zur schwerwiegendsten Zerrüttung des weltweiten Bildungswesens in der Geschichte" geführt habe.
Zudem hätten psychische Störungen bei Frauen deutlich mehr zugenommen als bei Männern. Mehr Pflege- und Haushaltspflichten sowie häusliche Gewalt im Lockdown spielten dabei eine wichtige Rolle. So würden "Betreuungs- und Haushaltspflichten aufgrund von Schulschließungen oder der Erkrankung von Familienmitgliedern (...) eher von Frauen übernommen". Auch aufgrund wirtschaftlicher Benachteiligungen, wie eines oft geringeren Gehalts, seien Frauen wesentlich stärker von den psychischen Folgeerscheinungen betroffen als Männer.
"Sie sind auch häufiger Opfer von häuslicher Gewalt, die während der Zeit der Lockdowns und der Anordnungen das Haus nicht zu verlassen anstieg."
Die Wissenschaftler um Damian Santomauro vom Queensland Zentrum für psychische Gesundheitsforschung (QCMHR) betonten, dies sei die erste Studie, die die globalen Auswirkungen der Krise auf psychische Störungen in 204 Ländern nach Alter, Geschlecht und Ort quantifiziere. Die meisten Forschungen hätten sich bisher auf bestimmte Orte und einen kurzen Zeitraum konzentriert. Die Meta-Analyse zeige, dass eine erhöhte COVID-19-Infektionsrate und eine verringerte Bewegungsfreiheit der "Menschen mit einer erhöhten Prävalenz von schweren depressiven Störungen und Angststörungen" einherginge. Dies könne, heben die Experten an anderer Stelle hervor, wiederum fatale Konsequenzen haben:
"Sowohl schwere depressive Störungen als auch Angststörungen erhöhen das Risiko für andere Krankheiten und Selbstmord."
Die Autoren forderten Regierungen und politische Entscheidungsträger auf, dringend Maßnahmen zu ergreifen, um die psychosozialen Gesundheitssysteme weltweit zu stärken und der gestiegenen Nachfrage gerecht zu werden. Kollegen aus Großbritannien und Schweden schlossen sich in einem Lancet-Kommentar dem Appell an. Es müsse dringend mehr geforscht werden, um die psychische Gesundheit im Kontext der Pandemie weltweit zu verbessern, so die Experten.
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