Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan hat in einem Interview das Ende der "Hegemonie des Westens" verkündet, wie die türkische Nachrichtenagentur Anadolu berichtete. Er sagte am Dienstag:
"Wir sind am Ende des problemverursachenden Verständnisses angelangt, dass der Westen überlegen ist. Jeder erkennt und akzeptiert dies jetzt. Sogar der Westen selbst hat begonnen, dies anzuerkennen. Die jahrhundertelange Hegemonie des Westens ist nun vorbei. Es entsteht ein neues internationales System."
Erdoğan sprach auch mit der türkischen Zeitschrift Kriter über sein Buch mit dem Titel "Eine gerechtere Welt ist möglich" sowie zu aktuellen Fragen der internationalen Politik, etwa die Syrien-Krise. Das türkische Staatsoberhaupt erklärte:
"Die Welt befindet sich in einer Krise, und die Pandemie hat diese Krise noch verschärft."
Er fügte hinzu, dass sich die Probleme, die die Weltgemeinschaft plagen, weiter verschärfen werden, wenn sie nicht sofort gelöst werden, da sonst kein bestehender Mechanismus mehr funktionieren wird.Die Mechanismen der internationalen Politik würden laut Erdoğan derzeit nicht funktionieren. Es habe sich daraus ein Problem der Ordnungspolitik ergeben. Auch die Vereinten Nationen hätten einen Anteil daran. Der türkische Präsident stellte die Rolle der Türkei bei diesen internationalen Fragen heraus:
"Wir, die Türkei, müssen eine Antwort auf diese tiefe globale Krise geben, die wir gerade durchmachen. Als Land sind wir in den letzten 20 Jahren die Stimme und das Gewissen der Menschheit gewesen. Wir haben die Stimme der schweigenden Mehrheit auf allen internationalen Plattformen lautstark zu Gehör gebracht."
Die türkische Regierung habe stets eine humanitäre Haltung gegenüber allen Ungerechtigkeiten in der Welt eingenommen, unabhängig von Religion, Sprache oder Rasse. Mit seinem Buch strebe das türkische Staatsoberhaupt an, diese Ungerechtigkeiten zu thematisieren und Lösungsansätze zu entwickeln.
Erdoğan erklärte:
"Wir schlagen eine Umstrukturierung der UNO vor.
Mit diesem Vorschlag sagen wir, dass die Welt gerechter werden kann. Wir wollen, dass die wirklichen Probleme der Welt diskutiert werden."
Ihm zufolge sei der „Kollaps des globalen Systems“ auf mehrere Umstände zurückzuführen, nicht nur etwa auf Entwicklungen in der Wirtschaft, sondern auch auf politische und Sicherheitskrisen:
"Die Ungleichheit zwischen Nord und Süd hat sich weltweit noch weiter verschärft. Die derzeitige politisch-wirtschaftliche Ordnung hat es nicht geschafft, den globalen Wohlstand zu sichern, sondern hat die Ungleichheiten noch vertieft."
Bezüglich der Vereinigten Staaten stellte der türkische Präsident fest, dass deren Versuche, das internationale System alleine zu beherrschen, gescheitert seien. Den USA sei es nicht gelungen, in Irak und Afghanistan Demokratien aufzubauen, geschweige denn staatliche Strukturen.Die Bemühungen des Westens um die Förderung der Demokratie führten in einigen Ländern zu größerer Zerstörung, während der Westen heuchlerisch handelte und die Demokratien des Westens dem Populismus und Extremismus nachgaben, betonte er.
Die Syrien-Politik des Westens kritisierte er aufgrund des angeblichen Umstandes, dass diese alleine zum Ziel gehabt hätte, Flüchtlingsströme zu verhindern. Humanitäre Aspekte habe der Westen nicht berücksichtigt. Er bemängelte außerdem, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nach den angeblich von der syrischen Regierung durchgeführten Chemiewaffenangriffen tatenlos zugeschaut habe. In Bosnien und Herzegowina, Palästina, Kaschmir, Myanmar und auf der Krim habe sich ähnliches abgespielt.
Erdoğan tadelte, dass im Sicherheitsrat der UNO die weltweite muslimische Bevölkerung von 1,5 Milliarden Menschen nicht berücksichtigt wird.
Die UNO repräsentiere nicht das neue globale politische Gleichgewicht. Das Schicksal der Welt befinde sich in den Händen von fünf Staaten, die nur ihren eigenen nationalen Interessen folgten.
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