Von Tilo Gräser
In Großbritannien entwickelt sich "leise" eine zweite Gesundheitskrise, meldete die Zeitung The Telegraph vor einigen Tagen. Seit Anfang Juli habe es über den Durchschnittswert hinaus Tausende von Todesfällen gegeben, die nicht durch das Virus SARS-CoV-2 verursacht worden sein sollen.
Nach Ansicht von britischen Gesundheitsexperten sei das für den Sommer höchst ungewöhnlich, so die Zeitung. Die sommerliche Übersterblichkeit sei "ein beunruhigender Ausreißer". Nach Angaben des britischen Statistikamtes Office for National Statistics (ONS) gab es seit dem 2. Juli 9.619 überzählige Todesfälle in England und Wales, von denen 48 Prozent (4.635) nicht durch COVID-19 verursacht wurden.
Ähnliches wurde für die Bundesrepublik gemeldet, wo laut dem Statistischen Bundesamt in den Monaten von April bis Juli jeweils mehrere Tausend Sterbefälle über dem mittleren Wert der vier Jahre zuvor verzeichnet wurden. Dagegen sanken in diesen Monaten die gemeldeten Todesfälle "im Zusammenhang mit COVID-19" deutlich.
Befürchtete Folgen
The Telegraph verweist auf Daten von Public Health England (PHE), der Regierungsbehörde für öffentliche Gesundheit. Diese zeigen demnach, dass seit Anfang Juli etwa 8.000 zusätzliche Todesfälle durch Herz- und Kreislauferkrankungen registriert wurden. Auch bei den akuten und chronischen Atemwegsinfektionen seien 3.416 mehr Todesfälle auf den Totenscheinen verzeichnet als erwartet, während es rund 3.500 zusätzliche Todesfälle durch weitere innere Krankheiten gegeben habe.
Demgegenüber steht laut der Zeitung, dass "bei vielen dieser Krankheiten der stärkste Rückgang der Diagnosen im Jahr 2020 zu verzeichnen" war. Die britische Regierung habe unlängst einen Bericht über die direkten und indirekten Auswirkungen der Pandemie auf die Gesundheit veröffentlicht. Diesem zufolge gab es im Jahr 2020 schätzungsweise 23 Millionen weniger Hausarztkonsultationen als im Jahr 2019, so das Blatt.
Vor dieser Entwicklung wurde gewarnt, seit am 11. März 2020 die Pandemie von der Weltgesundheitsorganisation WHO ausgerufen wurde. So haben wie in Deutschland auch in Großbritannien Wohltätigkeits- und Gesundheitsorganisationen befürchtet, dass die Menschen schwer Zugang zur medizinischen Versorgung erhalten. Der Grund: Der britische öffentliche Gesundheitsdienst National Health Service (NHS) konzentrierte sich darauf, die Pandemie zu bekämpfen.
Massiver Rückstau
"Jetzt könnten die 18 Monate verzögerter Behandlungen ihren Tribut fordern", befürchtet die Zeitung. Sie zitiert unter anderem Charlotte Summers, Fachärztin für Intensivmedizin am Addenbrooke's Hospital in Cambridge. Summers sagte diese Woche auf einer Veranstaltung der Royal Society of Medicine (RSM), dass Patienten mit schweren Erkrankungen, die sich während der Pandemie verschlimmert haben, in die Notaufnahme kommen.
"Es gibt eine Zunahme von nicht covidalen Notfällen, die aufgrund der Verzögerungen, die die Pandemie bereits verursacht hat, an den Eingangstüren der Krankenhäuser ankommen. So werden beispielsweise Menschen mit Tumoren später eingeliefert und haben deshalb Darmperforationen, Aneurysmen und viele andere Dinge, die sich verzögert haben."
Es gebe "einen massiven Rückstau bei elektiven Eingriffen", so die Ärztin. Sie hält es zudem für "wahrscheinlich, dass wir in diesem Jahr mehr Grippefälle haben werden, weil die Immunität gegen Influenza nachgelassen hat". Im letzten Winter habe es "so gut wie kein RSV (Respiratorisches Synzytialvirus)" gegeben, sodass die pädiatrische Intensivstation "so gut wie leer" gewesen sei. "Jetzt wimmelt es dort und in unseren Notaufnahmen von Erwachsenen und Kindern mit RSV-Infektionen."
Nachgeholte Infektionen
Ähnliches berichtete unlängst der Schweizer Infektiologe Pietro Vernazza. Im zurückliegenden Winter seien bei Kindern keine Infektionen mit RS-Viren registriert worden. Vernazza sieht die Ursache dafür in den durch das verordnete "Social Distancing" eingeschränkten Kontakten der Menschen.
Durch ein Verhindern der Infektion trete diese oft später auf. "Wenn sie später auftritt, kommt es oft zu schwereren Verläufen." Diese Hypothese könnte laut dem Infektiologen erklären, dass derzeit nicht nur in der Schweiz viele Fälle von Kindern mit Infektionen mit RS-Viren registriert werden.
"Es fühlt sich eher so an, als ob der Winter schon da wäre", so die britische Intensivmedizinerin Summers.
"Dieses Jahr ist es schlimmer, als ich mich in den letzten 20 Jahren erinnern kann."
Nach Angaben des NHS England warten derzeit rund fünf Millionen Menschen auf einen Behandlungsbeginn, schreibt The Telegraph. Gesundheitsminister Sajid Javid habe davor gewarnt, dass diese Zahl auf 13 Millionen ansteigen könnte. Neben den verschobenen elektiven Operationen tragen laut der Zeitung die Zahl der gestiegenen krankheitsbedingten Abwesenheiten des Personals und die Quarantänemaßnahmen bei positiv getesteten Mitarbeitern zur Krise bei.
Verlorener Schutz
Zwischen Oktober und Dezember 2020 wurde dem Bericht nach etwa ein Viertel aller chirurgischen Aktivitäten in Großbritannien verschoben. Die Zahl der Notfallaufnahmen sei im selben Zeitraum um 1,6 Millionen zurückgegangen, "da die Menschen aus Angst, den NHS zu belasten, oder aus Sorge, sie könnten sich mit COVID-19 anstecken, keine Hilfe suchten".
"Das Land leidet auch unter dem Mangel an Immunität", schreibt The Telegraph. Lockdown, soziale Distanzierung, Isolierung und Masken hätten zwar COVID-19 zurückgehalten, meint das Blatt. Aber damit sei ebenso die Ausbreitung anderer Krankheiten gebremst worden, was nun zu fehlender Immunität führe. Auch davor hatte der Schweizer Infektiologe Vernazza gewarnt.
2020 hat laut der Zeitung die Rate der grippeähnlichen Erkrankungen auf der Insel einen Höchststand von 3,8 pro 100.000 Einwohnern erreicht, verglichen mit einem Spitzenwert von 59 pro 100.000 im Jahr 2017/2018. Es zeichne sich ein Anstieg von Infektionskrankheiten ab, "die uns in diesem Winter härter treffen könnten als je zuvor, da wir weniger Schutz haben als sonst".
Das Blatt meint: "Die Reaktion auf COVID-19 könnte unbeabsichtigt eine anhaltende Gesundheitskrise ausgelöst haben, aus der es keinen Ausweg mehr gibt." Die Zeitung befürchtet in der Folge "einen Dauerzustand der Immunschwäche". Dieser könne dazu führen, dass die Regierung einen neuen Lockdown im Winter mit massiven Beschränkungen verordnet.
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