Noch in einem Bericht aus dem Jahr 2016 erklärten die Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, dass US-Truppen und die CIA möglicherweise Menschen in Hafteinrichtungen in Afghanistan, Polen, Rumänien und Litauen gefoltert und misshandelt hätten. Der IStGH genehmigte im März 2020 schließlich eine Untersuchung dazu. Die Ermittlungen verzögerten sich allerdings, nachdem die afghanischen Behörden darum gebeten hatten, den Fall zu übernehmen. Angesichts der erneuten Herrschaft der Taliban in Afghanistan bat der IStGH-Chef-Ankläger Karim Khan das Gericht nun, die Ermittlungen gegen die USA nicht wieder aufzunehmen. In seiner Erklärung schreibt er:
"Nach sorgfältiger Prüfung der Sachlage bin ich zu dem Schluss gekommen, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Aussicht auf echte und wirksame innerstaatliche Ermittlungen zu Verbrechen nach Artikel 5 in Afghanistan mehr besteht. Diese Feststellung hat den vorliegenden Antrag erforderlich gemacht."
Stattdessen, so Khan, werde sich der IStGH auf Verbrechen konzentrieren, die von den Taliban und dem afghanischen Ableger der militanten Gruppe Islamischer Staat (IS) begangen wurden. Dazu schreibt der Chefankläger:
"Die Schwere, das Ausmaß und die Fortdauer der mutmaßlichen Verbrechen der Taliban und des Islamischen Staates, zu denen wahllose Angriffe auf die Zivilbevölkerung, gezielte außergerichtliche Hinrichtungen, die Verfolgung von Frauen und Mädchen, Verbrechen gegen Kinder und andere Verbrechen gehören, die die Zivilbevölkerung insgesamt betreffen, erfordern die Konzentration und die Bereitstellung angemessener Ressourcen durch mein Amt, wenn wir glaubwürdige Fälle konstruieren wollen, die im Gerichtssaal zweifelsfrei bewiesen werden können."
Khan erwähnt in seiner Erklärung insbesondere die Anschläge vom 26. August 2021 in der Nähe des Flughafens von Kabul, die während der chaotischen Evakuierungen nach der Machtübernahme der Taliban verübt wurden. Bei diesen Anschlägen wurden Dutzende von Afghanen und 13 US-Soldaten getötet. Zu seiner Entscheidung, anderen Aspekten der Untersuchung, einschließlich der Vorwürfe von Verbrechen durch US-Amerikaner, keine Priorität mehr einzuräumen, schreibt Khan:
"In Bezug auf die Aspekte der Untersuchung, denen keine Priorität eingeräumt wurde, wird mein Amt seiner Verantwortung für die Beweissicherung, soweit sie sich ergibt, weiterhin gerecht werden und die Bemühungen um Rechenschaftspflicht im Rahmen des Grundsatzes der Komplementarität fördern."
Die Entscheidung des IStGH aus dem Jahr 2020, Ermittlungen gegen die USA aufzunehmen, war von Khans Vorgängerin Fatou Bensouda getroffen worden. Als Reaktion darauf verhängten die USA Sanktionen gegen Bensouda, die in diesem Sommer, am Ende ihrer neunjährigen Amtszeit, aus dem Amt schied. Die Untersuchung zielte ursprünglich auf mögliche Verbrechen von Kräften der damaligen afghanischen Regierung ab. Patricia Gossman, die stellvertretende Direktorin für Asien bei Human Rights Watch, sagte gegenüber der US-amerikanischen Nachrichtenagentur AP:
"Es ist eine wirklich beunruhigende Aussage des Chefanklägers, dass die Untersuchung nur einige der Konfliktparteien in den Vordergrund stellen wird – und insbesondere die sehr schwerwiegenden Vorwürfe gegen die US-Streitkräfte und die CIA anscheinend völlig ignoriert."
Sie ergänzte:
"Die Straffreiheit für diese und andere Verbrechen, die von der früheren afghanischen Regierung begangen wurden, sind ein Grund dafür, warum wir heute in Afghanistan da sind, wo wir sind."
Als der damalige US-Außenminister Mike Pompeo 2020 die Entscheidung bekannt gab, Sanktionen gegen Bensouda und einen ihrer wichtigsten Mitarbeiter zu verhängen, weil sie gegen die USA und ihre Verbündeten ermittelt hatten, sagte er über das Gericht:
"Wir werden die unrechtmäßigen Versuche dieses Gerichtes, Amerikaner seiner Gerichtsbarkeit zu unterwerfen, nicht tolerieren."
Dies scheint nun, nach der Erklärung von Khan, auch nicht mehr notwendig.
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