von Wladislaw Sankin
In März 2018, als Staatsangehörige Russlands im Wahllokal in der Russischen Botschaft am Berliner Prachtboulevard Unter den Linden ihren Präsidenten wählten, reichte die Schlange der Wahlberechtigten bis zur Glinkastraße. Die Korrespondenten der deutschen Medien mischten sich unter die Wartenden, um sie zu befragen. Am Tag der Duma-Wahl dreieinhalb Jahre später war es ruhiger, aber immerhin reichte die Warteschlange bis zur russischen Handelsvertretung im gleichen Gebäude-Karree in Berlin-Mitte.
Im 19. Jahrhundert hatte der Zar Nikolai der Erste dieses Areal Berliner Bodens erworben. Hinter dem eisernen Zaun befindet sich ein Territorium Russlands im buchstäblichen Sinn – mit all seinen Gesetzen. Doch außerhalb dessen, in der deutschen Bundeshauptstadt Berlin herrscht kein "Ruhetag", an dem Wahlagitation verboten wäre.
Die Anhänger des russischen Oppositionellen Alexei Nawalny nutzen diese Feinheit für ihre Zwecke voll aus. Mehrere Aktivisten der NGO "Forum der russischsprachigen Europäer" – die in Russland wegen ausländischer Finanzierung inzwischen als unerwünscht eingestuft ist – stellten ihr traditionelles "Demokratie-Zelt" auf – mit einer Putin-Figur und dessen angeblichen Opfern, zu denen kurzerhand auch gleich sämtliche Insassen der über der umkämpften Ostukraine abgeschossenen malaysischen Boeing des Fluges MH17 gezählt werden. Auf der anderen Seite des Zeltes stehen Plakate mit nicht zugelassenen Kandidaten für die Duma-Wahl. Aus den Lautsprechern tönte laute Musik mit "Anti-Putin-Liedern".
Die Musik wechselte sich ab mit Wortmeldungen, eines bärtigen Mannes vom benachbarten Straßenabschnitt. Er rief die Versammelten dazu auf, nach der umstrittenen Wahlempfehlung "Kluges Wählen" abzustimmen. Diese von Nawalnys-Team entwickelte Methode will den Wählern kluge Ratschläge für die Wahl geben. Empfohlen werden alle möglichen Kandidaten, die untereinander nur eines gemeinsam haben – sie dürfen nichts mit der regierenden Partei "Einiges Russland" zu tun haben. Das Ziel sei, die Mehrheiten für diese Partei in den Räten im ganzen Land und nun auch in der Staatsduma zu brechen.
"Wählen Sie auf dem Stimmzettel mit der Liste der Parteien eine beliebige (derzeit) parlamentarische Partei außer 'Einiges Russland'. Zur Erinnerung: Eine Stimme, die für eine Partei abgegeben wird, die weniger als 5 Prozent erhält, geht an 'Einiges Russland'", belehrt das Portal für das "Kluge Wählen".
Der Agitator vor der Botschaft bat uns, für zwei Einzelkandidaten seiner Wahl zu stimmen und nannte sie auch gleich namentlich. Für die Parteilisten galt für ihn jede Partei der zur Wahl zugelassenen 14 Parteien als wählbar – außer "Einiges Russland" – sogar die rechtsnationale LDPR, die der Nawalny-Bewegung strikt ablehnend gegenübersteht. Die russischen Behörden sehen in dem Verfahren eine Wahleinmischung vonseiten der USA, und Experten weisen darauf hin, dass auch die Wahlagitation in Ägypten gegen den damaligen Präsidenten Husni Mubarak kurz vor dem arabischen Frühling des Jahres 2011 auch in diesem Land die gleichen Muster aufwies. Eine Spur zu Geheimdiensten aus den USA sei deshalb gut erkennbar.
Stellenweise wirkte der Aktivist wie ein Animateur in einem Ferienhotel an der Mittelmeerküste, der einen abendlichen Wettbewerb leitete. 'Wer für Putin ist, bitte klatschen', rief er. Das Schweigen wertete er als sicheres Zeichen fehlender Unterstützung. "Keine Putin-Anhänger? Das ist gut!" Russland werde frei sein, auch für euch. Dann forderte er Freiheit für "politische Gefangene" und schaltete zum Podcast einer bekannten Aktivistin aus dem Nawalny-Umfeld, zu Ljubow Sobol.
Hinter mir besprach eine Gruppe von jungen Menschen, welche Partei für sie in Frage käme. "Bitte stimmt für Jabloko", sagte einer von ihnen. Seine Begleiterin zeigte sich bereit, für einen der von den Aktivisten vorgeschlagenen Kandidaten zu stimmen.
Beim Einlass bekam ich ein Hygiene-Paket mit einer FFP2-Maske, Kugelschreiber und Gummihandschuhen und die Erlaubnis, auch drinnen Fotos und Videos zu machen. Eigentlich dürfte das jeder, aber lieber vorher fragen.
Ich bekam zwei Zettel ausgehändigt und erfuhr, dass das Berliner Wahllokal zu einem Wahlbezirk im Gebiet Kursk zählt. Ich kenne keinen der Kandidaten, erkannte aber den Namen der Kandidatin, für welche die Nawalny-Anhänger agitierten – Tatiana Bondarenko. Sie wird von der Partei "Neue Leute" gelistet, ist eine 28-jährige Unternehmerin. Später erfahre ich, dass sie eine Baufirma leitet und sich für den Tierschutz engagiert. Ihr Motto lautet: "Das Gesicht der Politik muss jung sein." Ihren Wahlkampf führte sie über Instagram.
Ob sie mit dem Nawalny-Team je in Kontakt stand, bleibt ungewiss, eigentlich ist es eher unwahrscheinlich. Die Auswahl der von mir gewünschten Partei hatte ich schon Monate vor dem Wahltag getroffen. Die Kandidaten des Kursker Bezirks kenne ich zwar nicht. Die Listen der Parteien helfen mir aber, auch hier meine Wahl zu treffen.
Um mich herum sehe ich Menschen aller Altersgruppen, später im Gespräch mit einem Diplomaten erfahre ich, dass die Botschaft an diesem Tag mit etwa dreitausend Wählern rechnet. Deutschlandweit gibt es sechs Orte, wo man als Russe seine Wahlstimme abgeben kann, wobei wohl die meisten Besucher auf Bonn im bevölkerungsreichsten NRW kommen werden.
Der Beamte, der mir die Wahlzettel aushändigte, erfasst meine Personaldaten mit einem Smartphone in einer App, um mehrfaches Wählen zu verhindern. Sollte ich in wenigen Stunden in Hamburg oder Leipzig zum Wählen eintreffen, würde mein Name dann rot aufleuchten. Ihm gegenüber an einem Tisch sitzen zwei Wahlbeobachter. Ob ich elektronisch wählen könne, frage ich den Botschaftsmitarbeiter. "Nein", sagt er, die Registrierung dafür wäre nur bis zum 14. September möglich gewesen, und dies auch nur in sechs Wahlbezirken, denn das wäre ein Pilotprojekt.
Beim Verlassen der Botschaft sehe ich das gleiche Bild wie zwanzig Minuten zuvor – eine nicht kleiner gewordene Schlange auf der einen Seite der Straße und Agitatoren auf der anderen. In diesem Moment hat der bärtige Mann wohl gerade Pause, zu hören ist nur die Musik gegen Putin.
Stand 21:20 Uhr: Nach der Zählung von 15 Prozent der Wahlzettel liegt die Partei "Einiges Russland" nach bisheriger Stimmenauszählung an der Spitze – 41,25 Prozent der Wähler stimmten für sie. Die Kommunistische Partei steht an zweiter Stelle mit einem Stimmenanteil von 23,88 Prozent der Wähler für sie. Den dritten Platz belegt die Liberaldemokratische Partei mit 9,06 Prozent der Stimmen. Die Neucomer-Partei "Neue Leute" bekommt 7,3 Prozent. Die Partei "Gerechtes Russland" erhält knapp 7 Prozent der Stimmen.
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