Exklusiv-Interview mit dem Botschafter Kubas: "Die USA sprechen uns jedes Recht auf Souveränität ab"

Ramón Ripoll Díaz ist der kubanische Botschafter in Deutschland. Im Gespräch mit RT-DE-Redakteur Florian Warweg spricht er über die Hintergründe der Proteste auf der Karibikinsel Mitte Juli, die permanenten Sabotageaktivitäten der USA und das deutsch-kubanische Verhältnis.

Herr Botschafter, es ist uns eine große Ehre und eine gute Gelegenheit, mit Ihnen über die aktuellen Geschehnisse auf Kuba zu sprechen. Am 11. Juli, es war ein Sonntag, sind Tausende von Menschen auf die Straße gegangen, um Veränderungen einzufordern und gegen den Mangel an Strom, Medikamenten, aber auch an Lebensmitteln zu protestieren. Mich würde ihre Sichtweise auf die Geschehnisse interessieren. Was ist da auf Kuba passiert?

Vielen Dank für die Gelegenheit zum heutigen Gedankenaustausch. Ich persönlich denke und finde, dass man bis heute versucht, diese Situation am 11. Juli – und in einem viel kleineren Ausmaß am 12. Juli –, die Sie angesprochen haben, so darzustellen, als würde sie jetzt herrschen. Dies hat aber absolut nichts mit der Wirklichkeit zu tun.

Ich glaube, man kann sich sogar an das Jahr 1960 erinnern und sich die Formulierungen anschauen, die so klingen, als hätte man sie eben oder im vergangenen Monat geschrieben, um die Geschehnisse auf Kuba zu erklären. Wahrscheinlich ist das deswegen eine Nachricht, weil dies gerade auf Kuba passiert ist, wo solche Situationen alles andere als gewöhnlich sind, wo doch sonst solche Sachen in vielen Regionen der Welt tagtäglich passieren und viel schlimmere Folgen haben. Sie stehen womöglich 24 oder 48 Stunden in den Schlagzeilen und verschwinden dann wieder – wie von Zauberhand. Der Abschnitt, den ich gleich zitieren möchte, scheint – abgesehen von einem einzigen Wort – jetzt verfasst worden zu sein. Er heißt: "Die Mehrheit der Kubaner unterstützt Castro." Stattdessen könnte man sagen "die aktuelle Regierung".

"Der einzige absehbare Weg, ihm die Unterstützung im Inland zu entziehen, führt über Enttäuschung und Unzufriedenheit, die infolge des schlechten wirtschaftlichen Zustands und der materiellen Schwierigkeiten entstehen. Man muss unverzüglich alle möglichen Mittel anwenden, um das wirtschaftliche Leben auf Kuba zu schwächen. Dieser Aktionsplan, der möglichst schlau und diskret sein soll, wird es ermöglichen, dass die großen Fortschritte bei den Einschränkungen gegen Kuba in Bezug auf Geld und Versorgung, um seine finanziellen Ressourcen und Realeinkommen zu kürzen, letztendlich zu Hunger, Verzweiflung und einem Sturz der Regierung führen werden."

Das wurde am 6. April 1960 von dem damaligen US-Vizeaußenminister für Interamerikanische Angelegenheiten, Lester D. Mallory, geschrieben. Das liest sich, als ob es heute verfasst worden sei. Es sind inzwischen 61 Jahre vergangen, und es stellt sich die Frage, was man wiederum in 61 Jahren wird von dem zitieren können, was man im Juli 2021 so alles über Kuba geschrieben hat. Und jetzt kommt also die große Erklärung. Diese Politik der Blockade, die seit mehr als 60 Jahren andauert, hat selbstverständlich einen kumulativen Effekt, indem sie Kuba im Laufe all dieser Jahre an der Entwicklung gehindert hat. Insbesondere die Trump-Administration hat diese Maßnahmen bis aufs Äußerste verschärft.

Das Bedeutendste war womöglich, dass sie praktisch alle Maßnahmen – oder sozusagen Fortschritte – rückgängig machte, die unter der Obama-Administration galten. Dabei sollte man nicht vergessen, dass auch die Obama-Administration – abgesehen von ihren Zugeständnissen gegenüber Kuba selbst – in den zwei letzten Jahren die schärfsten jemals verhängten Sanktionen gegen europäische und andere Unternehmen wegen deren Beziehungen zu Kuba angewendet hatte. Aber Trump setzte sich zum Ziel, dies auf eine neue Niveau zu heben und praktisch alle Abkommen und Fortschritte zunichte zu machen, die man in den letzten zwei Jahren der Obama-Administration erreicht hatte. Er verfolgte außerdem hartnäckig beispielsweise alle Aktivitäten, die mit Brennstofflieferungen an Kuba zu tun hatten, und machte alles Mögliche, um uns die Geldüberweisungen, die ja schon ohnehin kompliziert waren, weiter zu erschweren. Die letzte Bescherung, die er uns machte, war, Kuba erneut auf die Liste von Staaten zu setzen, die angeblich den Terrorismus unterstützen – ohne jeden Beweis und ohne Bezug zur Wirklichkeit. Denn Kuba gehört selbstverständlich nicht zu den Ländern, die den Terrorismus unterstützen.

Dieses Bündel von Problemen und die offensichtliche Verletzung der Menschenrechte aller Kubaner – sowohl derjenigen auf Kuba als auch derer, die in den USA leben –, indem man ihnen die Möglichkeit erschwert hatte, normale Beziehungen zu ihren Familienangehörigen zu pflegen, brachten eine schwere finanzielle und wirtschaftliche Situation zustande. Hinzu kam noch der negative Effekt der Pandemie. Das alles wirkt sich natürlich auf das ganze Leben Kubas aus – sowohl was die Verfügbarkeit von Lebensmitteln und Medikamenten als auch was  die ununterbrochene Stromversorgung für die Bevölkerung betrifft. Ausgerechnet diese Umstände wurden ausgenutzt, um zu versuchen, gewisse Menschen innerhalb der kubanischen Gesellschaft zu mobilisieren, damit es zu solchen Ereignissen käme. Es waren tatsächlich einige Tausend Menschen. Man pflegt immer zu schreiben, es habe sich um größtenteils friedliche Demonstrationen gehandelt. Kaum begreiflich wäre in solch einem Fall die Tatsache, dass im Rahmen dieser "friedlichen" Demonstrationen Polizeireviere und Geschäfte angegriffen wurden. Es gibt oft gezeigte Aufnahmen mit umgestürzten Polizeiautos auf den Straßen. So etwas würde man nirgendwo auf der Welt hinnehmen. Selbstverständlich wird dies auch auf Kuba nicht akzeptiert. Hinsichtlich jedes anderen Ortes auf der Welt hieße es, man müsse die "Ordnung wiederherstellen". Im Fall von Kuba aber spricht man von einer angeblichen "Unterdrückung".

Der kubanische Präsident Miguel Díaz-Canel hat im Kontext der Proteste erwähnt, dass es in den sozialen Medien Anti-Regierungs-Kampagnen und Versuche gegeben habe, die Regierung zu destabilisieren. Was lässt Sie vermuten, dass die Proteste – zumindest teilweise – aus dem Ausland geschürt worden sind? 

Also, ich habe Ihnen eben eine Passage aus dem Jahr 1960 zitiert, als es noch kein Internet und erst recht keine sozialen Medien gegeben hatte. Schon damals waren ausländische Versuche offensichtlich, Situationen hervorzurufen, die zu antirevolutionären Aktionen führen sollten. Dieses Instrument war schon immer da. Man versuchte das immer. Im Laufe der Jahre wurde dieses Instrument selbstverständlich modifiziert. Mit der Entwicklung des technischen Fortschritts wurden neue Utensilien eingeführt. Damals, noch in den Anfängen der Revolution, wurde beispielsweise auf einer honduranischen Insel der Sender "Radio Schwan" aufgestellt, der gegen Kuba agieren sollte. Seit vielen Jahren gibt es ein Spezialprogramm des Senders "Voice of America", das für das kubanische Publikum ausgestrahlt wird. Wir haben das Privileg, dem Radio- und Fernsehsender "Martí" ausgesetzt zu sein, den niemand auf Kuba hört und sieht.

Dieser von den USA gegründete Sender wird aus dem US-Haushalt finanziert, um eine andere Realität zu zeigen, die sich von der Wirklichkeit auf Kuba unterscheidet, um somit die kubanische Bevölkerung zu beeinflussen. Und heute hat dies mit den aktuellen Mitteln eine neue Ebene erreicht. Außerdem benutzt man oft gewisse Personen innerhalb der kubanischen Gemeinschaft in den USA, die offenbar mit einer direkten oder indirekten finanziellen Unterstützung kontinuierlich Informationen streuen und versuchen, die Situation auf Kuba zu erschweren. Mehr noch: Sie treten sogar gegen normale Beziehungen zwischen den Kubanern, die auf Kuba leben, und ihren Familienangehörigen in den USA ein. Denn in ihrer Sinnestäuschung – so könnte man es nennen – fordern diese Personen, dass die in den USA lebenden Kubaner keine Beziehungen zu ihren Familienangehörigen auf Kuba pflegen und ihnen keine finanzielle Hilfe leisten sollten.

Trotzdem waren und sind Geldüberweisungen an Personen auf Kuba einige der Instrumente, die sie nutzen, um solche Situationen zu schaffen. Das haben sie auch diesmal getan und damit stark zu diesen Unruhen beigetragen. Selbstverständlich fallen nicht alle Teilnehmer dieser Demonstrationen in diese Kategorie. Aber die Organisatoren, die Sponsoren und die Koordinatoren, die offenbar dafür gesorgt haben, dass an einem Sonntag wie von Zauberhand an verschiedenen Orten auf Kuba solche Dinge passierten, tragen die Verantwortung dafür. Wir wissen auch, woher die Mittel kommen, mit denen sie finanziert werden.

Sie haben das Embargo und seine Folgen erwähnt. Zugleich wirft man regelmäßig im In- und Ausland der kubanischen Regierung vor, sie nutze dieses Embargo als eine Art Rechtfertigung, um von ihren eigenen Fehler abzulenken. Was halten Sie von diesem Vorwurf?

Diese Frage könnte sehr einfach gelöst werden: Wenn das Embargo eine Rechtfertigung ist, nehmt uns doch diese Rechtfertigung weg. Wenn wir so schlimm wären und wenn die kubanische Führung unfähig ist, das Land zu regieren, dann nehmt den kubanischen Behörden diese Rechtfertigung weg, erspart euch die alljährlichen UN-Resolutionen gegen eure Politik und lasst uns unseretwegen Selbstmord begehen. Da dies aber nie passieren wird, bleibt diese Politik aufrechterhalten – trotz der internationalen Kritik, die bereits 29-mal geäußert wurde, zuletzt im Juni. Im Sport wäre dies ein Skandal. Man stelle sich ein Basketballspiel mit einem Ergebnis von 184 zu 2 vor. Deswegen erspart euch diese diplomatische Schande, nehmt der kubanischen Führung diese Rechtfertigung weg und lasst uns dann "scheitern". Daher erscheinen solche Argumente etwas lächerlich.

Sie selbst haben immer wieder nach einer Rechtfertigung und einer neuen Motivation gesucht, um zu versuchen, die internationale Gemeinschaft von ihrer Politik zu überzeugen. Meiner Meinung nach sind die Gegebenheiten mit Blick auf Kuba so, dass es in den USA gewisse Kreise gibt, die nicht begreifen können, dass Kuba nur sein Recht verteidigt, ein souveräner und unabhängiger Staat zu sein. Unter diesen Umständen sind wir der Meinung, dass wir uns diese beiden Eigenschaften nur im Rahmen des Sozialismus garantieren können. In den vergangenen Wochen hat man viel über die Ähnlichkeit zwischen den Bildern aus Afghanistan und denen vom schmählichen Rückzug der US-Truppen aus Saigon gesprochen. Es gibt Bilder, sie sich im Gedächtnis fest verankern. Ich habe hier ein Bild, dass ich mit Verlaub zeigen möchte. Das ist ein Bild dessen, was Kuba nach unserer Überzeugung nie wieder sein darf.

Dieses Bild zeigt das Denkmal für den kubanischen Helden José Marti im Zentralpark von Havanna und einen US-Marineinfanteristen, der auf dem Kopf der Skulptur sitzt. Wir wollen nicht, dass sich so etwas auf Kuba wiederholt. Deswegen werden wir uns verteidigen. Sie können zwar sagen, es sei (für uns) eine Rechtfertigung, aber wir werden weiterhin gegen diese Art "Rechtfertigung" kämpfen, die sie gegen uns verhängen. Das hat übrigens nicht nur mit den bilateralen Beziehungen zwischen den USA und Kuba zu tun, wie sie es immer darstellen wollen. Wenn dem so wäre, hätten wir keine Schwierigkeiten in unserem Verhältnis mit der Europäischen Union als eine Folge der Umsetzung dieser extraterritorialen Sanktionspolitik. Dieses Problem spiegelt sich leider auch in den Beziehungen zwischen Kuba und Deutschland wider, ob wir das wollen oder nicht.

Um kurz zu den Protesten zurückzukehren: Sie haben schon die mediale Berichterstattung weltweit erwähnt. Parallel zu den Ereignissen auf Kuba war es zu heftigen Protesten in Kolumbien gekommen. Dort gab es viel mehr Gewalt und polizeiliche Repression, ohne dass westliche Medien darüber ausgiebig berichteten. Wie erklären sie diesen Unterschied in der Berichterstattung von den Protesten auf Kuba und in Kolumbien?

Ich glaube, da gibt es verschiedene Aspekte, auf die man hinweisen kann. Es sei aber zu erwähnen – das ist meine persönliche Meinung –, dass man heute viel von der Presse- und Meinungsfreiheit spricht, aber es macht sich eine gewisse Kontrolle von Seiten einiger weniger Großunternehmen oder sogar einzelner Personen bemerkbar. Sie befehligen ein sehr großes Konglomerat von Medien. Letztendlich beobachtet man leider, dass sich die Macht über Informationen tatsächlich in einigen wenigen Händen konzentriert. Wie bereits erwähnt, passieren ähnliche Dinge in kleinerem oder größerem Ausmaß und unterschiedlicher Intensität täglich weltweit. Letztendlich ist der Anklang, den sie in den Medien finden, auch mit dem politischen und ideologischen Hintergrund verbunden, den dieses oder jenes Medium, das diese Informationen verbreitet, haben kann.

Ich will nicht dieses oder jenes Land nennen, aber in den Medien versucht man, die Geschehnisse auf Kuba bis heute als "aktuell" darzustellen, obwohl im Vergleich zu Kuba ähnliche und dabei wiederkehrende Ereignisse in vielen anderen Ländern schon längst, womöglich nach einigen wenigen Stunden aus den Schlagzeilen wieder verschwunden wären. Das kommt in vielen Regionen der Welt vor. Man sieht sogar Aufnahme von Demonstrationen, die mit Gewalt unterdrückt werden, sogar hier in Europa, aber auch weltweit. Auch die USA haben in diesem Sinne eine wichtige Tradition in Bezug auf die Polizeigewalt, insbesondere gegen die schwarze Bevölkerung. So ist es im vergangenen Jahr zu einem Gewaltausbruch gekommen, der unter anderem die Kampagne "Black Lives Matter" gestärkt hat.

Das lässt sich nur so erklären: Was auch immer auf Kuba passiert, wenn es etwas Negatives für die Regierung und die Revolution ist, kommt sofort in die Schlagzeilen. Wenn es sich um etwas Positives handelt, wird es selten so intensiv thematisiert.

Lassen Sie uns noch ein bisschen über die Probleme sprechen, mit denen Kuba im Moment konfrontiert ist. Würden Sie uns bitte kurz Ihre Auffassung der Herausforderungen etwa im Wirtschaftsbereich schildern? Ich weiß etwa um den Einbruch im Tourismussektor. Könnten Sie bitte dem deutschen Publikum die aktuellen Herausforderungen Kubas darlegen?

Wie jedes andere Land haben wir unsere eigenen Herausforderungen und Schwierigkeiten. Denn es gibt kein einziges Land, das als Muster für andere gelten könnte. Bislang ist dies niemandem gelungen, und ich glaube nicht, dass ein Land dies jemals schaffen könnte. Wir werden mit der enormen Schwierigkeit konfrontiert, die von den Auswirkungen der Blockadepolitik herrührt. Jemandem, der nicht auf Kuba gelebt hat, mag erscheinen, dass man damit übertreibe, dass dies – wie schon erwähnt – eine Rechtfertigung sei. Wenn man aber die Tatsachen analysiert, so stellt man fest, dass mehr als 70 Prozent der Kubaner, die heute auf Kuba leben, bereits ihr ganzes Leben lang unter dieser Blockadepolitik leben. Kuba ist ein Land, das sich beispielsweise keine Flugzeuge kaufen kann, um nur ein Beispiel anzuführen. Es sei denn, sie sind aus Russland. Kuba kann sich keine Boeings kaufen, weil das US-Flugzeuge sind. Kuba kann sich keine Airbusse kaufen, weil über zehn Prozent ihrer Komponenten aus den USA kommen. Und es gibt eine Menge solcher Dinge. Sie kommen jeden Tag in unserem Leben zum Vorschein. Es mag einem schwerfallen, sich so etwas vorzustellen, aber unsere Regierung und unsere Behörden müssen immer, auch außerhalb der Corona-Pandemie, viel Zeit aufwenden, um nach Auswegen aus den Schwierigkeiten dieser Blockade zu suchen.

Der kubanische Außenminister hat am 23. Juni in der UNO gesprochen und dabei erwähnt, dass Kuba seit 2019, nein, seit 2020 und bis zu jenem Tag infolge der Blockade mehr als neun Milliarden US-Dollar eingebüßt hatte. Für jede Wirtschaft, die so groß wie Kubas Wirtschaft ist, ist das eine kolossale Summe. Damit könnten wir die soziale und wirtschaftliche Situation auf Kuba grundsätzlich oder zumindest entschieden verändern. Wir haben viel geschafft, aber auch mit viel Mühe. Ich möchte ein weiteres Beispiel anführen, das mit der Situation hier in Deutschland und mit den bereits erwähnten Maßnahmen der Trump-Administration zu tun hat. Es gibt zwei – oder besser gesagt drei – Aspekte im Wirtschaftsbereich, die für heftige Diskussionen zwischen Deutschland und den USA unter der Trump-Administration gesorgt hatten.

Es ging um die Strafzölle, das heißt um einen Handelskrieg, der implizierte, dass gewisse deutsche Exporte auf dem US-Markt hätten eingeschränkt werden können. So wurde damals beispielsweise erwähnt, dass deutsche Autos eine Gefahr für die nationale Sicherheit der USA darstellen könnten. Es gab die Drohung, deutsche Unternehmen zu sanktionieren, die sich an dem Bau der Gaspipeline "Nord Stream 2" beteiligten. Wenn es schon hier in Deutschland mit seinem Entwicklungsniveau und seiner Wirtschaftskraft ein Diskussionsthema war, was könnte so etwas für ein Land wie Kuba bedeuten? Kuba kann seit 60 Jahren keine Erzeugnisse in die USA exportieren, weil man dort davon ausgeht, dass sie alle eine Gefahr für die nationale Sicherheit der USA darstellen können. Und hier diskutierte man über mögliche Sanktionen gegen eine kleine Gruppe von US-Unternehmen. Es gibt eine Liste mit kubanischen Unternehmen, die mit US-Sanktionen belegt sind. Sie zählt mehr als 200 Unternehmen.

Das Problem beschränkt sich dabei aber nicht allein auf die Beziehungen zwischen den USA und diesen Unternehmen, sondern es wirkt sich auch auf andere Bereiche aus. Wir werden mit dieser Politik konfrontiert, die schon seit Jahrzehnten anhält. Niemand kann voraussehen, wann sie zu Ende gehen wird. Denn alles hängt damit zusammen, dass die USA wie bereits erwähnt Kuba jegliches Recht auf seine Souveränität und Unabhängigkeit absprechen. Dies kann zwar je nach Regierung Nuancen haben, aber dieses Gedankengut kommt in den ganzen US-Regierungskreisen deutlich zum Vorschein. In diesem Zusammenhang und mit dem Verständnis, dass wir nicht perfekt sind und dass es auf Kuba ungelöste Probleme gibt, unternehmen wir seit einigen Jahren Schritte, um in diesem Sinne nach Lösungen zu suchen. Zumal wir wissen, dass dieser Faktor andauern wird. Wir suchen nach Möglichkeiten, wie wir unsere Ressourcen, Mittel und Fachkräfte in der kubanischen Gesellschaft effizienter anwenden können, um unabhängig von unserem Kampf und unserer Kritik gegen die Blockade andere Lösungen und weitere Alternativen zu finden, um alle möglichen Ressourcen effizient zu mobilisieren, obwohl unser Land alles andere als reich an Bodenschätzen ist.

Was die Ressourcen betrifft: Im Kontext der Corona-Pandemie hat die Tatsache für viel Aufsehen gesorgt, dass es Kuba als eines der wenigen Länder der sogenannten Dritten Welt geschafft hat, seinen eigenen Impfstoff herzustellen. Sie haben eben die negativen Effekte des Embargos erwähnt. Wie ist Kuba das gelungen? Insbesondere wenn man bedenkt, dass es nur wenigen Industrieländern gelungen ist, ein Vakzin mit einer gleich hohen Wirksamkeit zu produzieren.    

Hier hat es selbstverständlich keine Zauberei gegeben. Das hat mit einem jahrzehntelangen Prozess zu tun. Das hat in erster Linie mit der Politik zu tun, die infolge der Revolution entwickelt worden ist. Es gelingt uns, sozusagen das Talent der kubanischen Bevölkerung zu kultivieren. Das fängt damit an, dass alle die Möglichkeit haben, eine Ausbildung zu bekommen. Jeder Mensch kann seinen Intellekt und seine Fähigkeiten im Einklang mit seinem Potenzial entwickeln. Wie auch in den anderen Bereichen, hat dies auch im Bereich Biotechnologie Früchte getragen.

Diese Entwicklung hat auf Kuba in den 1980er Jahren begonnen. Nach und nach wurden Forschungs- und Entwicklungszentren gegründet. Als wir in den 1990er Jahren mit einer äußerst schweren Situation konfrontiert wurden, brach dieser Prozess nicht ab. Als wir uns in einer noch gravierenderen wirtschaftlichen Lage als heute befanden, lief dieser Prozess weiter. So wurde im Jahr 1994 das Zentrum für Molekularbiologie als eine der wichtigsten Institutionen im biotechnologischen Programm und System Kubas eingeweiht. Das war womöglich das schlimmste Jahr der Sonderperiode. Nach der Schaffung trug dieses Potenzial über mehrere Jahre hinweg zur Entwicklung Kubas bei. Somit wird ein bedeutender Teil der Impfstoffe produziert, die auf Kuba verwendet werden.

Denn es gibt viele Immunisierungsprogramme für Kinder. Dieses Potenzial leistete darüber hinaus auch einen wirtschaftlichen Beitrag, da es genehmigte Exporte und den Technologietransfer ermöglichte. All diese zuvor geschaffenen Kapazitäten ermöglichten es, vor dem Hintergrund der Pandemie diese Arbeit fortzusetzen und auch dagegen dieses Ergebnis zu erzielen. Selbstverständlich wird auch hierbei klar, dass Kuba es zu einem noch besseren Ergebnis in diesem Bereich bringen könnte, was Exporte und Geschäfte mit anderen Ländern betrifft. Aber man muss zugleich bedenken, dass wir ein Entwicklungsland, ein Karibikstaat sind, den die ganze Welt mit der Sonne, Palmen und dem Strand assoziiert. Einer könnte denken, dass wir kein Potenzial hätten, so etwas zu leisten.

Die Pandemie hat aber bewiesen, dass dieses Potenzial bei uns vorhanden ist. Kuba wird wahrscheinlich das erste Land weltweit sein, dem es gelingen wird, seine ganze Bevölkerung vollständig mit eigenen Impfstoffen zu immunisieren. Es gibt sogar ein sozusagen paradoxes Beispiel im Verhältnis zwischen den USA und Kuba und in der bilateralen Politik – zum Glück ist noch nicht alles zerstört: Denn es gibt ein bilaterales Abkommen zwischen Kuba und dem Bundesstaat New York über die Entwicklung eines therapeutischen Impfstoffs gegen den Lungenkrebs. Das ist ein weiterer Beleg dafür, dass dieses Potenzial von Kuba sogar in den US-amerikanischen wissenschaftlichen Kreisen anerkannt wird. Trotzdem kann sich dieses Potenzial wegen der Schwierigkeiten, die uns die Blockade auferlegt, nicht im vollen Ausmaß entfalten.

Denn es ist äußerst schwierig, neueste Technologien zu erwerben. Und selbst wenn wir finanzielle Mittel haben, um eine bestimmte Importware zu bezahlen, finden wir manchmal keine Bank, die bereit wäre, die Überweisung dafür zu tätigen. Wenn wir solch eine Bank finden, verlangt sie von uns viel mehr Geld als üblich in solchen Fällen. Das betrifft auch Unternehmen, die Kuba mit gewissen High-Tech-Waren und -Komponenten versorgen. Denn sie müssen ständig prüfen, dass nicht mehr als … (10?) Prozent aller Komponenten in ihren Erzeugnissen aus den USA kommen. Widrigenfalls könnten sie sanktioniert werden. Das führt mitunter zu solch absurden Situationen wie dieser. Das trifft auch hierzulande einzelne deutsche Unternehmen. Das trifft seit vielen Jahren auch viele andere Länder, die belegen müssen, dass die fragliche Ausrüstung, die sie hergestellt haben und in die USA exportieren wollen, kein Nickel kubanischen Ursprungs enthält – wenn sie Nickel enthält.

Das Gleiche trifft auf die zuckerhaltigen Waren zu: Man muss belegen, dass sie keinen Zucker kubanischen Ursprungs enthalten. Diese Probleme, die einem absurd oder gar verrückt vorkommen mögen, sind Teil unserer Realität und kommen auch im Technologiebereich zum Vorschein. Letztendlich hat aber die Pandemie die Existenz dieses Potenzials auf Kuba unter Beweis gestellt. Es gibt inzwischen drei entwickelte Impfstoffe, die genehmigt wurden. Man arbeitet momentan an zwei weiteren. Auch sie könnten zu den weltweiten Bemühungen beitragen, die Pandemie zu bekämpfen. Diesbezüglich steht der Welt ein langer Weg bevor, und wir sehen eine enorme Diskrepanz zwischen der Immunisierungsrate, die gewisse Länder erreicht haben, und der Immunisierungsrate in anderen Regionen der Welt.

Erlauben Sie mir noch eine abschließende Frage. Wenn ich richtig informiert bin, endet Ihre diplomatische Mission hier in Deutschland in diesem Jahr. Wie bewerten sie das Verhältnis zwischen Kuba und Deutschland in den letzten Jahren?

Es gibt Bereiche, über die wir sagen können, dass wir dort ein gutes Niveau von Austausch und Entwicklung erreicht haben. Das ist nur nicht in allen Bereichen so. Es gibt gewisse Sektoren, wo dies besonders zum Vorschein kommt. Dabei sprechen wir in erster Linie über die Normalität. Denn die Pandemie brachte selbstverständlich Schwierigkeiten mit sich, die über all unsere Vorstellungen und Prognosen hinausgehen. Was die Wirtschaft betrifft, so ist die Präsenz deutscher Unternehmen auf Kuba wichtig. Auch die könnte größer sein.

Die Wirkung der Blockade lässt sich dennoch auch hier spüren. Während ein Unternehmen hier in Deutschland einen großen Geschäftsumsatz hat, ist es logisch, dass es auch ein großes Geschäftsvolumen in den USA haben will. Ein angestrebtes oder bestehendes Verhältnis mit Kuba könnte dabei gewisse Schwierigkeiten mit sich bringen. Wenn man ein mögliches Geschäft in einem Land mit 300 Millionen Einwohnern gegen ein mögliches Geschäft in einem Land mit 11 Millionen Einwohnern abwägt, werden die Kubaner immer verlieren. Das ist das Problem. Trotzdem gibt es ein gutes Austauschniveau.

Deutschland ist ein wichtiges Zielland für mehrere kubanische Exportwaren, die wir nicht in den USA verkaufen können, weil sie angeblich eine Gefahr für deren "nationale Sicherheit" darstellen könnten. Wie zum Beispiel Tabak, Rum und alle beliebigen kubanischen Waren. Aber in Deutschland haben diese Waren einen wichtigen Markt. Auch die Besuche deutscher Touristen auf Kuba sind wichtig. Deutschland war schon immer eines der führenden europäischen Länder in Bezug auf die touristischen Reisen nach Kuba. Wir hatten in den letzten Jahren gewisse Schwierigkeiten infolge des Wandels, der hier in der deutschen Luftfahrt stattgefunden hat. Der Konkurs der Air Berlin brachte uns in gewisse Schwierigkeiten.

Die Situation hatte sich noch nicht endgültig normalisiert, da tauchte dann schon das Coronavirus auf. Zuerst war es die Air Berlin und dann kam der Konkurs der Thomas Cook, der sich ebenfalls negativ auf diesen Bereich auswirkte. Wenn wir aber über die wissenschaftlichen Aktivitäten und über den akademischen Austausch sprechen, so ist das Entwicklungsniveau hier gut. Das Wichtigste ist, dass es hier ein Potenzial gibt, damit sich das Verhältnis hier verbessert. Ein Thema, in dem wir es vielleicht nicht geschafft haben, so weit zu kommen, wie wir es uns wünschten, ist der Zugriff auf alle Instrumente, die Deutschland bei der Entwicklung der internationalen Zusammenarbeit anwendet. So hat das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung im vergangenen Jahr – mitten in der Pandemie – die Entscheidung getroffen, eine Gruppe lateinamerikanischer Länder von der Möglichkeit auszuschließen, als offizielle Partner der Bundesregierung zu fungieren. Kuba war unter diesen Ländern.

Vielen Dank!

Ich möchte abschließend noch etwas hinzufügen.

Machen Sie!

Wir haben heute über unsere eigenartige Situation gesprochen, in der Kuba lebt. Sie befinden sich hier und jetzt auf kubanischem Territorium, in der kubanischen Botschaft in Deutschland. Wie bereits erwähnt, sprechen Sie mit einem Menschen, der ein Land vertritt, das nach Einschätzung der US-Regierung den Terrorismus unterstützt. Das hat mit der Wirklichkeit absolut nichts zu tun. Wie Joe Binden im vergangenen Monat erklärt hat – nach den bereits am Anfang des Interviews kommentierten Ereignissen –, sei Kuba ein gescheiterter Staat.

Zufälligerweise äußerte Präsident Biden diese Erklärung während des Besuchs von Bundeskanzlerin Angela Merkel, als sie im Weißen Haus eine gemeinsame Pressekonferenz gaben. Und das ist eben der Punkt. Hätte ein gescheiterter Staat mehrere Impfstoffe gegen das Coronavirus entwickeln können? Es ist etwas schwer, das nachzuvollziehen. Auch ein Beispiel für die Sportliebhaber: Dieser gescheiterte Staat hat bei den Olympischen Spielen im Juli den 14. Platz im Medaillenspiegel belegt. Das waren Medaillen, die kubanische Sportler gewannen. Wenn Sie sich diesen Medaillen-Liste anschauen, gibt es vor Kuba 13 Länder, die entweder flächenmäßig groß oder bevölkerungsreich oder wirtschaftlich stark sind. Wenn man die Zahl der Medaillen, mit der Zahl der Einwohner und mit der wirtschaftlichen Entwicklung vergleicht, so wird Kuba da zweifellos mit dem besten Ergebnis abschneiden.

Deswegen scheint die Behauptung, Kuba sei ein gescheiterer Staat, realitätsfern zu sein. Ein gescheiterter Staat hätte sich außerdem einer seit 60 Jahren andauernden Blockade seitens der weltweit größten Wirtschaft nicht widersetzen können.

Es wäre auch schwer, eine Botschaft aufrechtzuerhalten.   

Das auch natürlich. Gewiss.      

Vielen Dank für das Gespräch. Es war mir ein Vergnügen.

Ich danke Ihnen. Und weiter viel Glück bei Ihrer journalistischen Arbeit und natürlich in der Bundespressekonferenz.

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