Gabriel Martinez gehört zu den US-Soldaten, die irgendwann nicht mehr verstehen konnten, warum ihre Regierung sie nach Afghanistan geschickt hat. Seiner Meinung nach hätte der Krieg schon in den 2000er Jahren beendet werden müssen. "Er hätte nicht Tausende von Menschenleben und Zehntausende von Verwundeten und psychisch Zerbrochenen kosten dürfen". Der jetzt so plötzliche Abzug wirkte dann noch einmal wie eine Art Schock. Martinez führt aus:
"Die letzte Woche war wie eine emotionale Achterbahnfahrt – ich war wütend, fühlte mich verraten... es ging in mir auf und ab. Ich habe den Glauben an die Regierung Biden völlig verloren, es ist einfach ein komplettes Desaster, ganz ehrlich. Das ist es, was ich im Moment fühle. All die Leute, die in den letzten 20 Jahren vor Ort waren, fühlen sich im Stich gelassen", sagte der 35-Jährige in einem Gespräch mit RT.
Die Art und Weise, wie der Abzug aus dem Krisenland funktioniert, macht den ehemaligen Militärangehörigen besonders wütend:
"Schreckliche Ausstiegsstrategie! Das ist ein größeres Desaster als Saigon!"
Immer wieder ruft sich Martinez frühere US-Kriege in Erinnerung. "Wir haben nichts gelernt aus Vietnam, aus Irak. Das setzt sich fort, wir machen die gleichen Fehler." Eine Demokratisierung Afghanistans (Nation Building) hält er für eine Illusion. Er wird sehr emotional: "Nationenbildung? Was zum Teufel soll das sein? Wir haben das in Vietnam versucht, im Irak... und stets haben wir verloren."
Die Frustration, die den Soldaten plagt, teilen derzeit viele seiner Kameraden aus den Kämpfen. "Ich bin, wie alle Angehörigen des Militärs, enttäuscht", sagte Oberstleutnant der Marine Michael Purcell in einem Interview für russische Medien. Purcell ist Spezialist für eurasische Angelegenheiten und außerordentlicher Professor an der George Washington University. In der US-Presse tritt er als Experte für posttraumatische Störungen beim US-Militär in Erscheinung.
"Viele Menschen, die zwanzig Jahre lang mit den Amerikanern zusammengearbeitet haben, waren der Meinung, dass es gute und stabile Beziehungen zwischen unseren Ländern gibt. Sie sahen Perspektiven. Das ist jetzt alles ruiniert. Sowohl ich als auch diese Menschen sind enttäuscht", sagt er.
"Moralisches Risiko"
Den völlig unbedachten, unvorbereiteten Abzug, der im tödlichen Chaos im Kabuler Flughafen endete, hält der Militär für einen großen taktischen Fehler. "Jeder erkennt das an. Soldaten, Diplomaten und Bürokraten gleichermaßen". Die Entscheidung der Bush-Regierung, die Streitkräfte nach Afghanistan zu entsenden, sei ein strategischer Fehler gewesen.
Nun redet der US-Offizier vom zweiten "Afghanistan-Syndrom", das viele heimgekehrte Soldaten plagt, der erste hätte die sowjetischen Soldaten geplagt. Sie alle hätten nicht unmittelbar für die Verteidigung ihres Landes gekämpft und gingen mit einem "moralischen Risiko" in den Krieg.
"Es stellt sich die eine Frage: 'Warum waren wir in Afghanistan?' Das ist eine Frage, die sich viele Soldaten selbst nicht beantworten können. Sie können es sich nicht einmal selbst erklären, geschweige denn ihrer Umgebung. Und die Antwort auf diese Frage ist nicht offensichtlich. Besonders jetzt. Jeder Soldat sollte sich diese Frage stellen: 'Warum habe ich mich an einem Krieg beteiligt, der keine Bedeutung für das Leben und den Tod meines Volkes hatte?' "
Purcell weist darauf hin, dass wohl 70 Prozent der US-Amerikaner wirklich den Abzug ihrer Streitkräfte wünschten. Er sucht nach dem richtigen Wort, das die widersprüchlichen Gefühle in der Bevölkerung richtig zum Ausdruck bringen kann. "Amerika ist enttäuscht und besorgt zugleich, aber erleichtert", fasst er schließlich zusammen.
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