Gestern Saigon, heute Kabul, morgen Kiew? – Afghanistan als Lehre für die Ukraine

Im Jahr 2012 haben die USA Afghanistan den Status eines wichtigen Verbündeten außerhalb der NATO zugestanden. Neun Jahre später verlässt die US-Armee das Land und hinterlässt ihren Gegnern teure Militärtechnik. Was bedeutet das für ukrainische Bestrebungen, NATO-Mitglied zu werden?

In wenigen Tagen feiert die Ukraine den 30. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit. Die Feierlichkeiten scheinen jedoch durch die Ereignisse in Kabul überschatten zu werden. "Gestern Saigon, heute Kabul, morgen Kiew" – so oder ähnlich kommentieren viele ukrainische Internetnutzer in den sozialen Medien den fluchtartigen Abzug der USA aus Afghanistan. Doch auch viele Journalisten und Politiker äußern sich ähnlich. Die möglichen Lehren für die Ukraine aus dem Scheitern des längsten und wohl teuersten ausländischen Militäreinsatzes der USA sind in der Ukraine seit Tagen das außenpolitische Thema Nummer eins.

Befeuert wurde die Diskussion auch durch ein Video, das ukrainische Ex-Militärangehörige aus dem von der Taliban besetzten Kabul posteten. Sie filmten in einer von der US-Armee verlassenen Militärbasis, wie Taliban-Kämpfer Häftlinge aus einem nahegelegenen Gefängnis freilassen. "Mit uns ist nun Schluss", sagte einer von ihnen. Wie sich später herausstellte, haben die US-Amerikaner zwölf ukrainische Sicherheitsleute und weiteres Personal aus anderen Staaten auf der Basis zurückgelassen.

"Jeder Verbündete – Taiwan, die Ukraine, die baltischen Staaten, Israel, Japan – wird die Lehre daraus ziehen, dass er im Angesicht seiner Feinde auf sich allein gestellt ist." So bewertete ein Kolumnist der New York Times die Situation mit den US-Verbündeten außerhalb der NATO nach dem Skandal-Abzug. Dieses Problems ist man sich in Washington offenbar durchaus bewusst. So widmete auch der US-Sender donbassrealii, der zum staatlichen Medien-Netzwerk Radio Free Europe/Radio Liberty gehört, eine ganze Sendung der Frage: "Biden hat Afghanistan verlassen – wird er auch die Ukraine verlassen?"

Die ausgewählten Experten – jene, die mit der These des Senders, die Ukraine befinde sich in einem Krieg mit Russland, einverstanden sind – versuchten, die Situation als Normalfall zu bewerten. Der Abzug aus Vietnam im Jahr 1975 habe die Bedeutung der USA als Supermacht nicht verringert. Der Abzug aus Afghanistan sei zudem gar keine Niederlage, sondern ein notwendiger Schritt, den Ballast auf die Schultern der anderen Mächte zu übertragen. Die These über den Ansehensverlust der USA werde nun ein russisches Narrativ sein. Damit die US-Amerikaner nicht ihr Interesse an der Ukraine verlieren, müsse die Ukraine für die USA ein interessanter Verbündeter bleiben und ihren amerikanischen Partnern für sie vorteilhafte Projekte anbieten. Auch Korruption müsse besser bekämpft werden.

Ukrainische Politiker aus dem sogenannten national-patriotischen Lager gehen davon aus, dass die Ukraine nun bereit sein müsse, sich allein gegen einen "Angriff Russlands" zu verteidigen. So wies der einflussreiche Rada-Abgeordnete Borislaw Berjosa darauf hin, dass Afghanistan seit 2012 im Unterschied zur Ukraine ein wichtiger Verbündeter der USA außerhalb der NATO sei.

"Das hat nicht geholfen. Wir müssen also unsere Armee aufbauen, ihre Schlagkraft und Stärke erhöhen, unsere Sicherheitsdienste verbessern, indem wir sie von russischen Agenten und einheimischen Dieben säubern, und uns auf die Rückgabe von Gebieten nach kroatischem oder aserbaidschanischem Vorbild vorbereiten, falls die Diplomatie versagt. Ich bin sicher, dass sich eine solche Gelegenheit ergeben wird. Darauf sollte man vorbereitet sein. Genauso wie wir darauf vorbereitet sein sollten, die Ukraine gegen einen neuen Angriff Russlands zu verteidigen", schrieb er in einem Artikel.

Die einzige oppositionelle Rada-Partei "Oppositionsplattform – Für das Leben" vertritt eine gänzlich andere These. Sie geht fest davon aus, dass die Ukraine aus den USA "ferngesteuert" werde. Der Politiker Ilja Kiwa sieht das US-Kader in der Ukraine schon bald – wie die Afghanen heute – an das Fahrwerk eines US-Fliegers klammern.  

"Das gesamte Programm des Landes basiert auf der 'Unterstützung' der USA. Bislang hat Amerika die Ukraine genauso im Stich gelassen wie Afghanistan. Die Bilder, die wir heute vom Flughafen in Kabul sehen, sind in Wirklichkeit die Zukunft der Ukraine, wenn diejenigen, die dem US-Regime gedient, die Interessen ihres Landes aufgegeben und die Wirtschaft zerstört haben, fliehen und sich an das Fahrwerk davonfliegender US-Militärflugzeuge klammern werden", sagte er dem Nachrichtenportal Strana.ua.

Nach dem Verbot dreier mit der Opposition verbundener Fernsehkanäle bleibt Strana.ua eines der wenigen bekannten regierungskritischen Medien im Land. Der Chef-Redakteur des Portals Igor Guschwa sieht in den Ereignissen in Kabul ein starkes mahnendes Signal an die ukrainische Politik. "Das Filmmaterial (vom Kabuler Flughafen) zeigt ganz deutlich: Den Amerikanern kann man nicht trauen. Die Amerikaner werden abhauen. Auf die Amerikaner ist kein Verlass", schrieb er auf Facebook.

Das politische Hauptgeschäft der Ukraine in den letzten sieben Jahren sei der Verkauf von Problemen für Russland gewesen. Damit müsse jetzt Schluss sein, so Guschwa. Dies sei nun nicht mehr rentabel – und hochgefährlich.

"Und zumindest eine Lehre aus den Ereignissen in Afghanistan sollten die ukrainischen Behörden unbedingt ziehen. Sie sollten sich unter keinen Umständen an den Provokationen beteiligen, die von der Kriegspartei im Westen zusammen mit der Kriegspartei in der Ukraine gegen Russland ausgearbeitet werden", schrieb er.

Unabhängig davon, welche Lehre aus dem US-Abzug aus Kabul konkret gezogen wird, die lebhafte Diskussion darüber, die quer durch alle ukrainischen Medien geführt wird, macht eines deutlich: Die Ukraine sieht sich als ein Satellitenstaat der USA. Diese Tatsache wird in jede politische Debatte einkalkuliert – auch am Tag der Unabhängigkeit.

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