Nach dem Beginn des Rückzugs der NATO aus Afghanistan konnten die Taliban binnen weniger Monate viele Distrikte einnehmen. Für Rasuly kam das nicht überraschend. "Die Amerikaner haben 2001 ein Regime installiert, das sich nach und nach zu einem korrupten Regime entwickelt hat […]", erklärt der Politikwissenschaftler.
"Damit hat die Bevölkerung ihr Vertrauen zur Regierung verloren. Ich habe in Afghanistan – ich fliege jetzt jedes Jahr zweimal nach Kabul – in Erfahrung gebracht, dass sich die [Einwohner] schon vor der jetzigen katastrophalen Situation an die Taliban-Gerichtsbarkeit gewandt haben, an die Taliban-Behörden gewandt haben, wenn sie etwas verloren haben, wenn sie einen Streit hatten, wenn sie einen Grundstückstreit hatten. Sie sind zunehmend nicht zu afghanischen Behörden gegangen, weil die das Recht zum Unrecht, das Unrecht zum Recht erklärt haben, damit sie Geld bekommen können."
Rasuly sieht eine Hauptursache für die gegenwärtige Lage auch darin, dass sich die afghanische Regierung, die afghanischen Eliten nicht auf den Rückzug der ausländischen Truppen vorbereitet haben. Ähnlich sei es bereits früher nach dem Abzug der russischen Truppen gewesen.
Als es im Jahr 2002 darum ging, den deutschen Einsatz in Afghanistan zu verteidigen, hatte der damalige Verteidigungsminister Peter Struck sinngemäß formuliert, dass die Sicherheit Deutschlands auch am Hindukusch verteidigt werde. Afghanistan, also das afghanische Volk sei weder besonders streitsüchtig noch so stark, dass man es nicht besänftigen oder besiegen könne, erklärt Rasuly. Er sieht den Einsatz äußerer Großmächte in Afghanistan eher als geopolitisch motiviert – denn Afghanistan liegt an einer geostrategisch wichtigen Position.
Im Laufe seiner Geschichte, so Rasuly, kreuzten sich in dem Land immer wieder Kriegszüge der Großmächte: Alexander der Große, die Mongolen, Engländer, Russen und US-Amerikaner, sie alle waren in Afghanistan. Mit der Macht oder "Gefährlichkeit" Afghanistans oder des afghanischen Volkes habe das aber wenig zu tun.
Um die Situation zu verbessern, müsse für mehr Sicherheit und humanitäre Hilfe für die innerafghanischen Flüchtlinge gesorgt werden – beispielsweise durch das Schaffen von Friedenszonen, schlägt der Experte vor.
Weiterhin sei es wichtig, den innerafghanischen Verhandlungsprozess für einen neuen Staat unter Beteiligung aller wichtigen Gruppen der Gesellschaft in Afghanistan zu fördern. Diese Gespräche laufen derzeit bereits in Doha, kommen aber aktuell nur schleppend voran.
"Es geht darum, dass die Taliban einen neuen Vorschlag haben, nämlich: Sie wollen die Verfassung der Monarchie wieder einführen", erklärt Rasuly. "Das hat eine ganz einfache Bedeutung: […] In so einem Staat, in so einem System haben die Paschtunen das Wort, d.h. sie sind dann wieder als Großmacht, wieder als bestimmende Kraft im Lande. Dann werden sie auch damit aufhören zu kämpfen und sich auf eine Regierung einigen, die dann den König oder den Präsidenten der Paschtunen stellen und den Ministerpräsidenten (durch) die Nicht-Paschtunen […]" stellen werde.
Dies sei vor allem auf die historische Entwicklung des Landes zurückzuführen. Afghanistan wurde 1747 gegründet. Das Staatsgebiet sei in jener Zeit von afghanischen Stämmen, den Paschtunen, in einem Prozess des "internen Kolonialismus" – ein Begriff des Historikers und Afghanistan-Experten Jan-Heeren Grevemeyer – praktisch erobert worden. Aus diesem Grund sieht Rasuly den Vorschlag der Taliban – die überwiegend Paschtunen sind – als durchaus aussichtsreich an, um den Frieden im Land wiederherzustellen.
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