Wolfgang Bittner: USA verfolgen Langzeitstrategie zur Verhinderung deutsch-russischer Kooperation

Der Schriftsteller Dr. Wolfgang Bittner geht in seinem aktuellen Buch "Deutschland – verraten und verkauft: Hintergründe und Analysen" der Frage nach, warum es Deutschland derzeit nicht gelingt, ein gedeihliches Verhältnis zu Russland zu entwickeln. Ein Interview.

Der Schriftsteller Dr. Wolfgang Bittner war vor seinem Ruhestand neben der Schriftstellerei unter anderem als freier Mitarbeiter für zahlreiche Printmedien, den Hörfunk und das Fernsehen tätig. Seine Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und er erhielt mehrere Literaturpreise. In seinen jüngsten Werken widmete er sich dem (neuerlichen) West-Ost-Konflikt und dem Verhältnis zu Russland. In seinem aktuellen Buch "Deutschland – verraten und verkauft: Hintergründe und Analysen" beschreibt Bittner, warum es Deutschland seiner Meinung nach derzeit nicht gelingt, ein gedeihliches Verhältnis zu Russland zu entwickeln. Das Nachrichtenportal SNA stellte sein Interview mit ihm RT DE zur Verfügung.

Herr Dr. Bittner, wer hat Deutschland verraten und verkauft? Und wie geschieht das?

Um die heutige Situation zu verstehen, muss ich in der Geschichte etwas weiter zurückgehen: Das 1871 neu gegründete Deutsche Reich hatte sich um die vorletzte Jahrhundertwende zu einer wirtschaftlich prosperierenden Macht in der Mitte Europas entwickelt. Bildung, Wissenschaften und die Künste wurden gefördert und strahlten in die ganze Welt aus. Das führte zu Besorgnis bei den Imperial-Mächten Großbritannien und Frankreich und bei den Wirtschaftseliten der USA. Daher begannen sie seit etwa 1900 Pläne zu entwickeln, die lästige Konkurrenz zu beseitigen, und dem sollte der Erste Weltkrieg dienen, der lange vor 1914 insgeheim vorbereitet wurde. Das habe ich ja in meinem Buch "Deutschland – verraten und verkauft" ausführlich dargestellt.

Nach dem Sieg der Alliierten wurde Deutschland dann durch den aufgezwungenen Versailler Vertrag mit unglaublich hohen Reparationsabgaben und Reparationszahlungen belastet. Dadurch geriet Deutschland in eine prekäre Lage, und in der Folgezeit gelang es den Nationalsozialisten, die junge Weimarer Republik immer mehr zu destabilisierten. Hitler, der seit Anfang der 1920er Jahre nachweislich auch aus dem Ausland gefördert und finanziert wurde, übernahm die Macht; damit war der Zweite Weltkrieg vorprogrammiert. Er endete in einer bedingungslosen Kapitulation, wozu die Flächenbombardements deutscher Städte bis in den April 1945 hinein beitrugen. Und danach wurde Restdeutschland, also die neu gegründete BRD, wieder gegen den Bolschewismus, also gegen die Sowjetunion, aufgestellt, wie schon im Ersten und im Zweiten Weltkrieg. Das geschah unter wesentlicher Führerschaft der USA, die bis heute die Bundesrepublik Deutschland als eine Art Vasallenstaat betrachten. Soweit die historische Entwicklung, wie ich sie sehe.

Die heutige Einflussnahme geht jetzt nicht nur von Washington aus, sondern ebenso von den sehr einflussreichen Netzwerken wie zum Beispiel der Atlantik-Brücke, dem European Council on Foreign Relations, Aspen Institut, Atlantic Council, der Münchner Sicherheitskonferenz usw. Es sind mehr als 100 dieser höchst einflussreichen Institute, denen zahlreiche deutsche Politiker, Journalisten und Wissenschaftler zu Diensten sind. Sie wurden gleich nach 1945 eingerichtet, und sie nehmen wesentlichen Einfluss auf die Politik und die öffentliche Meinungsbildung. – Also das ist sehr verkürzt meine Begründung, warum Deutschland verraten und verkauft ist, nicht erst seit 1945.

Die Durchsetzung der Politik der Bundesrepublik auch durch diese Thinktanks haben Sie ja schon in unserem Interview zu Ihrem Buch "Der neue West-Ost-Konflikt" ausführlich dargestellt…

Darin befindet sich ja eine Liste mit vielen Namen der Institutionen, aber auch der Politiker, Journalisten und Wissenschaftler, die da Mitglied sind oder – wie gesagt – denen zu Diensten sind.

Bezug nehmend darauf: Warum befindet sich das Gebiet Deutschlands immer noch im Kriegszustand – das wissen ja die wenigsten – und was haben das Waffen-Statut der Alliierten und der fehlende Friedensvertrag damit zu tun? Der Zweite Weltkrieg wurde ja nie formell beendet.

In einem aktuellen Kriegszustand befindet sich Deutschland nicht. Aber ich meine, es befindet sich in einem Vorkriegszustand, wenn man diese massive Aufrüstung und Konfrontationspolitik gegen Russland und nun auch gegen China vor Augen hat. Ja, es gibt bis heute keinen Friedensvertrag; aber 1990 wurde mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag ein vorläufiger Abschluss geschaffen. Das Besatzungsrecht wurde aufgehoben, und dem vereinten Deutschland sollte volle Souveränität gewährt werden.

Allerdings haben die USA durch ein Zusatzabkommen zum Truppenstationierungsstatut Sonderrechte durchgesetzt. Das betrifft die Rechtsstellung der in der Bundesrepublik stationierten ausländischen Streitkräfte und deren Befugnis, die zum Schutz der Truppen notwendigen Sicherungsmaßnahmen zu treffen – das ist ja sehr weit auslegbar. Unter anderem gehören dazu Eingriffe in das Kommunikationswesen und Sonderrechte bei der Strafverfolgung. (Mir stellt sich die Frage, ob eventuell bei ausufernden Großdemonstrationen dann das Kriegsrecht ausgerufen werden könnte – eine rein theoretische Frage.)

Zu berücksichtigen sind aber auch weitere Abkommen und Einflussmöglichkeiten der USA im Wege verdeckter Nötigung und Erpressung. Damit haben wir es ja ständig zu tun, Nord Stream 2 zum Beispiel als Stichwort. Danach lässt sich feststellen, dass Deutschland zwar pro forma souverän ist, de facto aber nur über eine eingeschränkte Souveränität verfügt.

Auf Seite 56 in Ihrem Buch nennen Sie die zahlreichen Basen und Militär-Stützpunkte der US-Armee in Deutschland. Was bedeutet das für die Bundesrepublik? Sie schreiben ja auch, dass Deutschland ein wichtiger Brückenkopf für die USA sei, vor allem im Gebaren gegenüber Russland.

Es wird ja schon seit Langem ein Abzug der US-Streitkräfte gefordert, dennoch gibt es noch etwa 40 größere Militärstützpunkte in Deutschland, darunter einige von der Größe Liechtensteins. In Büchel in Rheinland-Pfalz sind Atomwaffen stationiert; von Ramstein aus, dem Hauptquartier der US-Luftwaffe in Europa, werden die Einsätze von Kampfdrohnen in Afghanistan, Pakistan, Somalia und im Jemen gesteuert. In Landstuhl bei Kaiserslautern befindet sich das größte US-Militärkrankenhaus außerhalb der USA. Außerdem ist Deutschland ein Zentrum der US-Spionage.

Das alles ist möglich, weil deutsche Politiker sozusagen als Einflussagenten der USA mitmachen. Ihnen ist offenbar nicht klar, dass sich Deutschland dadurch im Visier der russischen Raketenabwehr befindet. Vielen Menschen in Deutschland ist das nicht bewusst oder sie befürworten es sogar aufgrund der permanenten Indoktrination durch Politik und Medien: also die USA als Befreier und Beschützer. Das ist tragisch, und ich empfinde es auch als eine Schande, das muss ich gestehen. Wenn man hinter die Kulissen des politischen Geschehens schaut, kann einem wirklich schlecht werden.

Dass die Bundeswehr marode ist, das ist keine neue Erkenntnis, das berichten Medien seit Jahren. Aber Sie schildern in Ihrem Buch ein absolutes Versagen darin, einen Brand im norddeutschen Moor nach einer Schießübung der Bundeswehr zu löschen. Dabei sei ein Spezial-Löschfahrzeug der Bundeswehr angerückt, das blieb wegen eines Defekts liegen, und schließlich konnten erst THW und Feuerwehr das Feuer löschen. Ist das auch so ein typisches Beispiel für das Versagen der Bundeswehr?

Ja, das geschah in der Gegend der niedersächsischen Stadt Meppen in der Emsland-Region. Dort gibt es inmitten eines Naturschutzgebietes den größten voll instrumentierten Landschießplatz Westeuropas – das ist kaum bekannt – etwa 200 Quadratkilometer groß. 2018 fand in diesem Gebiet ein Waffentest mit Luft-Boden-Raketen statt. Und dabei kam es in den Wäldern und auf der Heide zu einem Großbrand, der die Bevölkerung der umliegenden Ortschaften bis nach Bremen durch die starke Rauchentwicklung erheblich beeinträchtigte. Zunächst war ein Löschfahrzeug der Bundeswehr ausgerückt, aber es blieb wegen eines Defekts liegen, und ein zweites Spezialfahrzeug war nicht einsatzbereit. Binnen Kurzem breitete sich ein Flammeninferno aus, auch im Moor fraß sich die Glut unterirdisch weiter.

Die Bundeswehr versagte völlig, und aufgrund unzureichender Informationen rief der Landkreis Emsland erst 18 Tage nach dem Waffentest den Katastrophenfall aus. Noch später erschien die damalige Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen und entschuldigte sich im Namen der Bundeswehr bei den Menschen der Region. Dieser Vorfall scheint mir symptomatisch dafür zu sein, wie unbedarft und rücksichtslos das Militär selbst in Friedenszeiten mit Natur, Umwelt und nicht zuletzt mit dem Wohl der eigenen Bevölkerung umgeht.

Sie kritisieren immer wieder "US- und NATO-affine" deutsche Politiker, nicht nur in der CDU und bei den Grünen, die eine weitere kostspielige Aufrüstung fordern. In Ihrem Buch schreiben Sie, es stelle sich die Frage, in welcher Realität die Berliner Politiker leben und ob sie überhaupt wüssten, wie viele Millionen Menschen in diesem Land unter Hartz IV leiden, zu geringe Löhne erhalten und in Armut leben müssen? Könnten Sie das näher ausführen?

Von den 83 Millionen Einwohnern in Deutschland leben schätzungsweise mehr als 20 Millionen – das ist ein Viertel der Bevölkerung – am Rande oder unterhalb des Existenzminimums. Die Armut hat während der Corona-Krise noch zugenommen. Zugleich werden Milliarden an Steuergeldern regelrecht verpulvert, in letzter Zeit zum Beispiel für untaugliche Schutzmasken, Corona-Tests, Impfkampagnen oder Subventionen an Großunternehmen, die sich nicht scheuen, hohe Dividenden an ihre Aktionäre auszuschütten. Hinzu kommt, dass der Wehretat bereits jetzt mehr als 45 Milliarden Euro beträgt, und er soll von Jahr zu Jahr noch erhöht werden. Es scheint ja so, als könne man beliebig viel Geld nachdrucken. Ich frage mich, und nicht nur ich, wohin das führen soll.

Blicken wir mal auf die deutsch-russischen Beziehungen, die Sie auch im Buch prominent besprechen. So zitieren Sie zum Beispiel die bekannte Rede Wladimir Putins 2001 im Bundestag. Bis heute wirbt ja Moskau für einen euro-russischen Kultur- und Wirtschaftsraum von Wladiwostok bis Lissabon bei gleichzeitiger Anerkennung der US-europäischen Beziehungen. Ich glaube, das ist ein wichtiger Punkt, man kann ja mit Amerika und Russland Freundschaft pflegen aus deutscher Sicht. Wieso werden trotzdem seitdem russische Vorstöße zu echter Kooperation mit Deutschland und Europa immer wieder ausgeschlagen?

Da muss ich auch etwas zurückgehen. Die USA verfolgen eine Langzeitstrategie, wie ich das nenne, nicht erst seit 1945. Der ehemalige Direktor des einflussreichen Thinktanks Stratfor, George Friedman, hat das 2015 in einer Rede in Chicago plastisch erläutert. Er sagte nämlich, das Hauptinteresse der US-Außenpolitik während des letzten Jahrhunderts – im Ersten und Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg – seien die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland gewesen. Und das Hauptziel sei gewesen, eine Kooperation, die die Vormachtstellung der USA infrage stellen könnte, zu verhindern. Denn wenn sich deutsches Kapital und deutsche Technologie mit russischen Rohstoff-Ressourcen und russischer Arbeitskraft verbänden, dann hätten die USA ein großes Problem, wirtschaftlich wie militärisch. Deswegen legten sie um Russland herum einen Sicherheitsgürtel, einen "Cordon Sanitaire", wie Friedman das nannte. Damit haben wir es zu tun, das ist die Strategie: Keine Kooperation zwischen Deutschland und Russland.

Erst vor kurzem traf sich der russische Staatschef Putin mit dem neuen US-Präsidenten Joe Biden in Genf. Kurz davor traf sich Biden mit Bundeskanzlerin Merkel bei den G7 und beim NATO-Gipfel in Brüssel. Erwarten Sie von diesen Zusammenkünften irgendetwas oder ist das nur Show-Diplomatie?

Der russische Präsident Putin hat bereits 2001 in seiner friedenspolitischen Rede vor dem Deutschen Bundestag und danach immer wieder Kooperation angeboten – zuletzt übrigens noch am 22. Juni in einem Gastbeitrag in der Wochenzeitung Die Zeit. Lesenswert! Dem setzen die USA ihren unipolaren Anspruch, also Weltmacht Nr. 1 zu sein, mit einer Aggressionspolitik und militärischen Einkreisung Russlands entgegen. Daran hat sich ja bis heute nichts geändert, im Gegenteil, das ist noch forciert worden. Unter diesen Umständen war von dem Treffen der G7, das unter Ausschluss von Russland und China stattfand – völliger Unsinn! – friedenspolitisch nichts Neues zu erwarten. Es ging um die Corona-Pandemie, um Klimafragen, und unter Anleitung des US-Präsidenten verschworen sich die G7-Vertreter gegen Russland und China. Wobei sich Angela Merkel, was China anging, etwas zurückhielt, wie es hieß, weil China ein Haupthandelspartner für Deutschland ist. Dann wurde noch ein Gegenstück zum Jahrhundert-Projekt der Neuen Seidenstraße, gegen die ja heftig polemisiert wird, beschlossen.

Vorhersehbar verlief dann auch das Gipfeltreffen zwischen den beiden Präsidenten. Joe Biden ist der Dienstälteste unter russophoben US-Politikern, ein wirklich hochgefährlicher Kriegstreiber, der es schließlich bis ins Präsidentenamt geschafft hat, und nun spielt er den guten Onkel aus Amerika. Er hat die üblichen Beschuldigungen erhoben, und Wladimir Putin hat sie zurückgewiesen. Ob nun ein Tauwetter zwischen den beiden Großmächten einsetzen wird, ist zu bezweifeln. Es sollen ja schon wieder neue Sanktionen beschlossen werden.

Aber immerhin haben sich die beiden Präsidenten auf Augenhöhe getroffen und Gespräche über Rüstungskontrolle und Cybersicherheit vereinbart. Der russische und der US-amerikanische Botschafter sollen nach Washington und Moskau zurückkehren oder sind schon zurückgekehrt. Und man war sich schließlich einig, dass niemand Interesse an einem neuen Kalten Krieg habe – tja, der herrscht ja schon seit Jahren. Die Welt darf also weiterhin auf Entspannung hoffen. Aber kaum ist Biden abgereist, wird ja in Brüssel schon wieder über neue Sanktionen beraten. So sieht das aus.

Sie zitieren den CDU-Politiker Willy Wimmer an mehreren Stellen in Ihrem Buch. Wimmer meinte demnach, die NATO-Führung hätte sogar strategisch überlegt, Russland und China in mehrere Staaten aufzuspalten. Das ist natürlich ein Vorschlag, der an alte Kolonialpolitik erinnert.

Das Schüren von Chaos und die Teilung von Staaten sind seit Langem Mittel der US-Politik. Eines von vielen Beispielen ist Jugoslawien, das in mehrere aus eigener Kraft kaum überlebensfähige Kleinstaaten aufgeteilt wurde. Und ganz offensichtlich gibt es Pläne, Russland und China zu destabilisieren, unter Umständen sogar mit Krieg zu überziehen. Was wir derzeit erleben, halte ich – wie schon gesagt – für Kriegsvorbereitungen. Der Ex-Staatssekretär im Verteidigungsministerium Willy Wimmer erinnerte 2020 in einem Interview an angelsächsische Überlegungen, Russland in 40 und China in 8 voneinander unabhängige Staaten aufzugliedern.

Die zerstörerischen Planungen der westlichen Strategen kennen ja keine Grenzen, was natürlich auch in China und Russland registriert wird. Wir können wirklich froh sein, wenn sich diese Prognosen nicht erfüllen. Dass sich unter Präsident Joe Biden ein Paradigmenwechsel vollziehen könnte, wie manche glauben, halte ich für eine Illusion. Biden ist wesentlich für die Kriege in Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien und in der Ukraine mitverantwortlich. Er ist hochgefährlich und offenbar noch nicht so senil, dass er die Aggressions- und Sanktionspolitik seiner Vorgänger nicht knallhart weiterverfolgen kann.

Sie zitieren in ihrem Buch den SPD-Co-Vorsitzenden Norbert Walter-Borjans, dass er und die SPD die aggressive, US-gelenkte Regierungspolitik mittragen. Sie schreiben, wie unser Vorgänger-Medium Sputnik Deutschland berichtete, er kritisierte in einem Pressegespräch den "Tonfall" von Außenminister Sergei Lawrow und betete eine Litanei unbewiesener Anschuldigungen gegenüber Russland herunter. Wo steht die SPD in der NATO-Politik Ihrer Meinung nach?

Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen – die unter dubiosen Umständen in ihr Amt kam, sie stand ja nicht einmal auf der Wahlliste –, die hatte ja gesagt, dass mit der russischen Regierung keine geopolitische Partnerschaft möglich sei. Daraufhin hatte der russische Außenminister Sergei Lawrow erklärt, wenn das so sei, sollte der Kreml vielleicht eine Weile aufhören, mit den Vertretern der EU zu sprechen. Zuvor hatte er die EU und Deutschland im Fall Nawalny aufgefordert, die Regeln des Völkerrechts einzuhalten.

Ich hatte in meinem Buch dazu geschrieben, es handele sich um eine Zäsur im deutsch-russischen Verhältnis und ich hatte bedauert, dass die SPD den Feinseligkeiten gegen Russland nicht begegnet. Denn einer Stellungnahme Norbert Walter-Borjans war zu entnehmen, dass die SPD die aggressive, US-gelenkte Regierungspolitik mitträgt. Walter-Borjans hatte in einem Pressegespräch den "Tonfall" Lawrows kritisiert, was nach den permanenten Aggressionen westlicher Politiker gegenüber Russland, und auch gegenüber russischen Politikern, eine Frechheit ist. Und er hatte eine Litanei unbewiesener oder lügenhafter Anschuldigungen gegen Russland heruntergebetet, wie wir es ja von Angela Merkel, Annegret Kramp-Karrenbauer, Heiko Maas, Norbert Röttgen oder einigen der russophoben Journalisten kennen, Claus Kleber zum Beispiel: Angefangen bei den angeblichen Cyberangriffen und dem Mordanschlag auf den Spion Skripal, bis hin zum sogenannten Tiergarten-Mord.

Außerdem befürwortete Walter-Borjans neuerliche Sanktionen gegen Russland im Fall Nawalny und gegen Belarus. Er hatte offensichtlich nicht begriffen – wie viele in der SPD –, was Lawrow meinte, als er von der Notwendigkeit eines gegenseitigen respektvollen Dialogs sprach. Eine Ausnahme ist hin und wieder der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich. Aber selbst bei gemäßigten Sozialdemokraten wie ihm ist die Linie eine Sowohl-als-auch-Politik, so im Sinne: Die USA sind aggressiv, aber die Russen auch. Und das stimmt eben nicht: Die Konfrontationspolitik geht eindeutig von den USA und der von ihr dominierten NATO aus.

Wie sehen Sie vor diesem Hintergrund Nord Stream 2: Erst jüngst haben die USA wieder Sanktionen gegen daran beteiligte deutsche Firmen beschlossen.

Na ja, die USA wollen Nord Stream 2 mit allen, auch völkerrechtswidrigen und erpresserischen Mitteln verhindern, weil sie zum einen selbst ihr Fracking-Gas nach Deutschland und Europa verkaufen wollen. Zum anderen soll eine Kooperation Deutschlands mit Russland auch hinsichtlich der Energieversorgung verhindert werden – ich habe das in meinem Buch genauer ausgeführt. Das sind natürlich gravierende Eingriffe in innerstaatliche Angelegenheiten Deutschlands. Man muss sich das vorstellen: Da bedrohen die USA selbst die Betreiber der Hafenanlage in Sassnitz-Mukran, die Angestellten und jeden, der mit dem Bau der Pipeline zu tun hat, mit weitreichenden ernsten Sanktionen, also Sperrung von Konten, Vermögensverlust, Einreiseverboten usw. Eine Ungeheuerlichkeit! Dass die Bundesregierung laviert und nicht scharf dagegen vorgeht, ist ein deutliches Zeichen dafür, dass Deutschland nach wie vor unter Kuratel der USA steht. Die machen, was sie wollen, aber niemand im Westen unternimmt ernsthafte Schritte dagegen.

Nun hat Joe Biden im Mai einen Rückzieher gemacht und angekündigt, man werde von neuen Sanktionen gegen den Pipeline-Bau absehen, weil das Vorgehen angesichts des fortgeschrittenen Baustadiums kontraproduktiv sei – ein spätes Einsehen. Aber es geht hin und her, momentan ist schon wieder eine Weiterführung der Sanktionen im Gespräch, wie ich hörte. Die Republikaner warfen Biden vor, Putin ein Geschenk machen zu wollen und erhoben sofort Widerspruch.

Der Corona-Krise widmen Sie in Ihrem neuen Buch ein ausführliches Kapitel. Sie kritisieren, dass von der Regierungslinie abweichende Experten-Meinungen, etwa des Virologen Dr. Streeck oder von Dr. Wodarg, kaum Gehör finden, diffamiert und angegriffen werden. Das sehen wir ja in den Medien. Dr. Streeck war letztes Jahr einmal bei "Lanz", Dr. Wodarg wird gar nicht mehr eingeladen. Bekannt ist ja, dass die PCR-Tests fehlerhaft sind. Dennoch würde Panik geschürt, wie Sie schreiben. Wie hat ihrer Meinung nach Corona Deutschland verändert und was hat das mit dem Thema "verraten und verkauft" zu tun?

Die Bevölkerung wird meines Erachtens nicht korrekt über das Coronavirus und die von ihm ausgehende Gefahr unterrichtet. Stattdessen wird von den Politikern und Medien Panik erzeugt. Es ist nicht zu bezweifeln, dass es sich um ein hochansteckendes Virus handelt, aber ich bin der Meinung, dass in Deutschland keine pandemischen Verhältnisse herrschen. Das sagen ja auch Experten wie Hendrik Streeck oder Wolfgang Wodarg, aber andere Meinungen werden ja nicht zugelassen. Fakt ist: Es liegt bisher keine nennenswerte Übersterblichkeit vor, das heißt, es sind nicht viel mehr Menschen als sonst gestorben. Unterschlagen wird auch, dass nach der Statistik ohnehin täglich etwa 2.600 Menschen sterben; jeden Tag sterben etwa 2.600 Menschen in Deutschland an den unterschiedlichsten Ursachen!

Das wirft die Frage auf, ob die staatlichen Zwangsmaßnahmen, die aufgrund von zweifelhaften Inzidenzwerten und angeblich übermäßig hohen Sterbezahlen getroffen wurden, berechtigt und sinnvoll waren. Dieser Inzidenzwert, über den tagtäglich in den Medien berichtet wurde, geht von der Anzahl positiv Getesteter pro 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche aus. Aber je mehr Testungen durchgeführt wurden, desto höher war die Anzahl der positiv Getesteten. Dabei blieb dann unberücksichtigt, dass positiv Getestete nicht unbedingt mit dem SARS-CoV-2-Virus infiziert oder krank sind. Daraus ergeben sich ernsthafte Zweifel an dem allen Maßnahmen zugrunde gelegten Inzidenzwert – das ist ein Zahlenspiel – und an der Zweckdienlichkeit der staatlichen Zwangsmaßnahmen, wie auch überhaupt ihrer Verhältnismäßigkeit und damit ihrer Rechtmäßigkeit.

Ich meine: Man kann einen Staat nicht über Monate lahmlegen, die Menschen in ihren Wohnungen einsperren und die Grundrechte aussetzen, das geht einfach nicht. Dadurch hat sich die Gesellschaft in Deutschland sehr nachteilig verändert. Und wir stehen jetzt vor einer Finanz- und Wirtschaftskrise, und keiner weiß, wie es weitergehen soll.

Vieles gipfelte im Sommer 2020 in den großen Querdenker- und Anti-Corona-Maßnahmen-Demos, etwa in Berlin. Dort kam es ja zu dem berühmt gewordenen "Sturm auf den Reichstag". Für Sie, so schreiben Sie in Ihrem Buch, war das eine False Flag-Operation, also eine Operation unter falscher Flagge. Haben Sie Belege dafür oder warum nennen Sie das Ereignis so?

Zunächst einmal halte ich diese Demonstrationen für berechtigt. Wenn Hunderttausende gegen staatliche Zwangsmaßnahmen demonstrieren, kann das nicht einfach damit abgetan werden, das seien Idioten, Reichsbürger oder Verfassungsfeinde. Abgesehen davon steht im Grundgesetz: Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich zu versammeln. Dieses Recht wurde zwar durch das Infektionsschutzgesetz beschränkt, aber es wäre zu prüfen gewesen, ob dieses Gesetz eine generelle, unbeschränkte Möglichkeit bot, Grundrechte einfach über längere Zeit außer Kraft zu setzen, ob das nicht verfassungswidrig ist. Aber das kümmerte weder die Regierung noch das Parlament, das zeitweise in Tiefschlaf versunken schien.

Was den sogenannten Sturm auf den Reichstag angeht, bleiben viele Fragen unbeantwortet. Da hatte sich abseits der großen Corona-Demonstration Ende August 2020 eine kleinere Anzahl von Demonstranten auf die Stufen des Parlamentsgebäudes gestellt und unter anderem Reichsfahnen geschwenkt, sogenannte Reichsbürger, wie es hieß. Sie hatten ihre Demonstration zuvor ordentlich angemeldet und die Genehmigung erhalten, unmittelbar am Reichstag eine Bühne aufzubauen. Ihre Aktion, bei der ja nichts weiter passierte, beschäftigte dann tagelang Politik und Medien und lenkte so von einer der größten Demonstrationen der letzten Jahre ab, die sich mit Hunderttausenden Teilnehmern gegen die Maßnahmen der Regierung in der Corona-Krise richtete. Die Reichsbürger-Aktion wurde als Teil der großen Corona-Demonstration abgehandelt, und deren Teilnehmer wurden pauschal als Verschwörungstheoretiker, als COVIDioten oder Verfassungsfeinde diskriminiert. Es wurden Demonstrationsverbote gefordert, Sanktionen gegen die Demonstranten, tausende Kundgebungsteilnehmer hatte die Polizei eingekesselt. Auf ihre Anliegen wurde nicht eingegangen.

Zur selben Zeit – und das ist bezeichnend – ermutigten Politiker und Journalisten die Demonstranten in Weißrussland und forderten für das Land einen Regimewechsel. Also, man ist hier immer im Recht, und man ist hier immer für die Freiheit woanders. Die tagelang andauernde Empörungswelle wegen dieses angeblichen Sturms auf den Reichstag verlagerte sich dann abrupt, als der Fall Nawalny in die Schlagzeilen kam. Das ist ja auch so eine ganz dubiose Geschichte. Und das alles ist doch sehr durchsichtig.

Herr Dr. Bittner, was erwarten Sie denn jetzt für Deutschland vor dem Hintergrund Ihres neuen Buches von der Bundestagswahl im September? Gibt es da nach Ihrer Meinung eine Partei mit einer Linie, mit der man das Land wieder auf einen guten Kurs bringen könnte?

Wenn sich der Kanzlerkandidat der CDU/CSU Armin Laschet durchsetzt, erwarte ich keine grundlegenden Änderungen, nicht in der Innenpolitik und schon gar nicht in der Außenpolitik, die ja wesentlich von Washington mitbestimmt wird. Sollte sich dagegen die Grünen-Kandidatin Annalena Baerbock durchsetzen, könnte es noch schwieriger werden als bisher schon. Sie ist Mitglied in der Community der Young Global Leaders des Weltwirtschaftsforums, fordert – entsprechend den Vorgaben aus Washington – einen noch "härteren Kurs" gegenüber Russland und China, und sie wendet sich gegen die Fertigstellung von Nord Stream 2. Erstaunlich, dass eine so unbedarfte Politikerin überhaupt für solch ein Amt aufgestellt wird.

Dem SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz räume ich keine Chancen ein. Und der Partei Die Linke, die aus meiner Sicht vernünftige Ansätze hat, ist es bisher leider nicht gelungen, eine echte Alternative für die vielen Menschen zu sein, die mit den Verhältnissen unzufrieden sind. In die Lücke, die bleibt, stößt dann die AfD vor, die meines Erachtens keine Politik für die meisten derjenigen macht, die sie wählen. Sie wollen in der NATO bleiben, die Rentenpolitik gefällt mir überhaupt nicht, da gibt es vieles, was problematisch ist. Alles in allem sieht es nicht gut aus in Deutschland, das muss ich aus meiner Kenntnis heraus leider sagen.

Wichtig wäre, dass demokratische Organisationen wie Gewerkschaften, Kirchen, Universitäten, aber auch eine große Friedensbewegung verstärkt für Frieden und Abrüstung eintreten – das vermisse ich bei den Parteien. Dann könnte sich etwas ändern. Denn die größte Schädigung der Umwelt, wie überhaupt eine existenzielle Gefahr, geht vom Militär, der Rüstungsindustrie und den stattfindenden Kriegen aus. Wenn Frieden und Abrüstung nicht im Mittelpunkt aller politischen Bemühungen stehen, ist die Zukunft ungewiss – und ohne Frieden – das sagte schon Willy Brandt – ist alles nichts.

Die Fragen stellte Alexander Boos, SNA.

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