von Bernd Müller
Kurz vor Abschluss der Bauarbeiten steht die Gas-Pipeline "Nord Stream 2" weiter in der Kritik. Als Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in Washington weilte, um mit dem US-Präsidenten Joe Biden zu verhandeln, meldeten sich daheim Kritiker zu Wort. Der frühere Unions-Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz erklärte, es sei ein Fehler gewesen, Nord Stream 2 ohne europäischen Konsens zu bauen.
Und Wolfgang Ischinger, Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, monierte, das Projekt sei eine Bürde für die deutsche Außenpolitik und sorge für ein offensichtliches Problem mit den USA.
Wie in Washington sehen Kritiker auch hierzulande in der Gasleitung ein geopolitisches Projekt Russlands, das angeblich die Energiesicherheit Europas gefährden könnte. Gleichzeitig wird der russischen Regierung unterstellt, sie könnte die Pipeline nutzen, um die Ukraine zu erpressen, etwa in der Art: Entweder das Land kann Transitland bleiben oder es nähert sich dem "Westen" weiter an.
Bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit dem US-Präsidenten Biden erklärte Merkel, man habe zu Nord Stream 2 nach wie vor unterschiedliche Einschätzungen. Mit Blick auf Russland betonte sie aber:
"Ich will aber ganz deutlich sagen: Unser Verständnis war und ist und bleibt, dass die Ukraine Transitland für Erdgas bleibt […]. Und dass wir auch aktiv handeln werden, wenn Russland dieses Recht der Ukraine auf Transitland nicht einlösen wird."
So einfach, wie oft kommuniziert wird, ist die Sachlage aber nicht. Der Konflikt zwischen Berlin und Washington ist auch ein Streit über die ungleiche Lastenverteilung, sollte es zu einem Konflikt mit Russland kommen. Ohne Energielieferungen aus Russland kommt die Europäische Union auch in Zukunft nicht aus – die USA verlangen dagegen von der EU, ihren Energiehunger zunehmend woanders zu stillen. Während die Amerikaner dies von den Europäern verlangen, sind sie selbst nicht bereit, dasselbe zu tun. Um ihre Sanktionen gegen Iran und Venezuela aufrechterhalten zu können, sind sie auf Öllieferungen aus Russland angewiesen.
Europa wird zudem in den nächsten Jahren allerdings stärker auf Gasimporte angewiesen sein, legt eine Analyse der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) nahe. Das Institut ist eng mit dem Bundeskanzleramt verbunden. In der Analyse vom April heißt es: "Die Gasförderung in Großbritannien, Dänemark, den Niederlanden und Deutschland hat sich zwischen 2009 und 2019 um mehr als die Hälfte auf 76,2 Milliarden Kubikmeter pro Jahr reduziert." Das Gasfeld Groningen in den Niederlanden werde im nächsten Jahr sogar die Förderung einstellen. Insgesamt sei die Förderung innerhalb der EU stärker zurückgegangen, als frühere Prognosen nahelegten. Für 2020 hatte man Importe von insgesamt 376 Milliarden Kubikmetern prognostiziert (für die EU-28, die Schweiz und für die Versorgung der Ukraine); dieser Wert sei aber schon 2019 mit 407 Milliarden Kubikmetern übertroffen worden. 170 Milliarden Kubikmeter davon hat Russland geliefert.
In Zukunft wird sich an der Rolle Russlands für die Energiesicherheit Europas nicht viel ändern, ist sich die SWP sicher: "Künftig wird der europäische Bedarf überwiegend durch Pipelinegas aus Russland und durch LNG, hauptsächlich aus den USA, aus Russland und aus Katar gedeckt werden müssen, da die heimische, die algerische und auch die norwegische Förderung sinken bzw. abflachen werden. Einzig das LNG-Angebot aus Katar wird sich nach 2025 auf dem Weltmarkt signifikant erhöhen, von 110 auf 152 Milliarden Kubikmeter pro Jahr."
Vor diesem Hintergrund appelliert die SWP dafür, Außenpolitik und Energiesicherheit in der Analyse nicht zu trennen. In diesem Sinne bleibt die EU auch in Zukunft auf ein partnerschaftliches Verhältnis zu Russland angewiesen, wobei die Streitpunkte lediglich in der Frage bestehen, auf welchen Routen das Erdgas künftig in die EU fließt. Doch schon jetzt zeigt sich: Die Lage der Ukraine verbessert sich nicht, würde Nord Stream 2 nicht in Betrieb genommen werden.
Als Merkel sich in Washington für die Ukraine als Transitland stark machte, ist sich in dieser Position treu geblieben – schon im Jahre 2015 hatte sie diese vertreten. Allerdings spart sie dabei ein Detail aus: Zwischen der Ukraine und Russland wurde Ende 2019 eine Vereinbarung getroffen, die den Status der Ukraine als Transitland bis 2024 sichert – und dem Land Einnahmen von mindestens 7,2 Milliarden Euro beschert. Die eng mit dem Bundeskanzleramt verbundene Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) schrieb im April in einer Studie, bei der Übereinkunft handle es sich um "eine stabile und verbindliche Grundlage", die auch mit den Regeln der Europäischen Union konform gehe.
Der russische Gaskonzern Gazprom hatte für das Jahr 2020 Transportkapazitäten von 65 Milliarden Kubikmeter gebucht, für die Jahre 2021 bis 2024 jeweils 40 Milliarden. Diese Mengen müssten bezahlt werden "unabhängig von der eigentlichen Dienstleistung", heißt es beim SWP. Sollte Gazprom aus irgendeinem Grund weniger oder gar kein Gas über die Ukraine leiten, muss demnach trotzdem gezahlt werden. "Der Tarif liegt um einiges höher als auf den Konkurrenzrouten Jamal-Europa oder der Nord Stream 1, da das Leitungssystem der Ukraine auf höhere Volumina ausgelegt ist", heißt es beim SWP weiter. Sollte Gazprom größere Mengen über die Ukraine leiten wollen, dann müsste das Unternehmen kurzfristig weitere Kapazitäten dazubuchen – zu noch höheren Preisen.
Die Bundesregierung möchte nun, hieß es kürzlich in der Berliner Zeitung, dass diese Vereinbarung um weitere zehn Jahre verlängert wird. Doch bislang ist nicht davon auszugehen, dass entsprechende Verhandlungen zeitnah aufgenommen werden. Darauf wiesen die Regierungsberater vom SWP hin: "Überdies ist eine potentielle Verlängerung problematisch, weil die Frage der Gastransporttarife für die nächste Regulierungsperiode 2025 bis 2029 noch nicht geklärt ist. Die Tarife werden wohl erst 2024 von der Nationalen Regulierungsbehörde der Ukraine (NEURC) beschlossen." Von Gazprom zu erwarten, jetzt schon Kapazitäten zu reservieren, ohne die Tarife zu kennen, sei schwer vorstellbar, heißt es in dem Papier weiter.
Was Biden und Merkel konkret besprochen haben, um den Streit um Nord Stream 2 beizulegen, ist weitgehend im Dunkeln geblieben. Wie es in der Berliner Zeitung hieß, könnte Biden von der Bundesrepublik verlangt haben, dass Berlin dabei helfen soll, den Aufbau erneuerbarer Energien in der Ukraine voranzutreiben. Bei diesem Verlangen dürfte es aus Berlin kaum Widerspruch geben, hat doch die Ukraine einen festen Platz in den Plänen, die Europäische Union mit "grünem" und mit "kohlenstoffarmen" Wasserstoff zu versorgen, der gebraucht wird, um die Industrie klimaneutral zu machen.
Im August bereits hatte die Bundesregierung eine Energiepartnerschaft mit der Ukraine vereinbart. Der europäische Branchenverband "Hydrogen Europe" plant, in der Ukraine Kapazitäten aufzubauen, mit denen Wasserstoff über Elektrolyse gewonnen werden kann. Außerdem soll das Land an das europäische Wasserstoffnetz angeschlossen werden. Die Entwicklung hat die Regierung in Kiew so euphorisch gemacht, dass sie in fünf bis zehn Jahren "Europas Wasserstofflieferant Nummer eins" sein will. So hatte es jedenfalls Andrei Melnyk, der ukrainische Botschafter in Berlin, im Februar erklärt.
Ein anderer Punkt, den Biden von Merkel laut Berliner Zeitung verlangt haben soll, ist, dass die Bundesrepublik die Ukraine entschädigt, sollten Transitgebühren ausfallen. Wonach die möglichen Entschädigungen berechnet werden sollen, ist allerdings unklar. Die SWP geht davon aus, dass künftig kaum mehr als die bisherigen 40 Milliarden Kubikmeter jährlicher Transportkapazitäten benötigt werden würden.
Das liege einerseits daran, dass nun ein Teil des europäischen Bedarfs über die Pipeline Turkstream gedeckt wird. "Seit Januar 2021 können darüber mindestens sechs Milliarden Kubikmeter jährlich durch Bulgarien, Griechenland, Nordmazedonien und ab Oktober nach Serbien geliefert." Die Mengen, die Gazprom im letzten Jahr noch über die Ukraine nach Rumänien und Ungarn geliefert habe, könnten nun auch aus der TurkStream über die Trans-Balkan geliefert werden.
Ein weiterer Grund ist die Trans Adreatic Pipeline (TAP), die im Dezember ihre Lieferungen von aserbaidschanischem Gas durch Griechenland und Albanien nach Italien aufnahm. Es ist auch geplant, dass künftig über diese Leitung auch ein Drittel des bulgarischen Bedarfs gedeckt wird. Hinzu kommen noch verschiedene Terminals, über die Südeuropa mit verflüssigtem Gas (LNG) bedient werden kann. Zu nennen sind die Anlagen im griechischen Revithoussa und im kroatischen Krk. Weitere Anlagen sollen in den nächsten Jahren ihre Arbeit aufnehmen. Die SWP geht davon aus, dass dann nur noch ein Teil des Bedarfs für Südeuropa über die Leitungen in der Ukraine gedeckt werden müsste.
Mehr zum Thema - "Keine Waffe dem Feind" – Selenskij zu Nord Stream 2 bei Treffen mit US-Senatoren
RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.
Bernd Müller arbeitet seit mehr als zehn Jahren als freier Journalist und veröffentlicht in verschiedenen Zeitungen und Medien. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Umwelt- und Energiepolitik, Arbeitskämpfe und Soziales.