Kurz nach dem Gipfel-Treffen der G7 veröffentlichte die FAZ einen Kommentar über die zunehmende Bedeutung von Kernwaffen in der Weltpolitik, da besonders eine "Bedrohung durch Russland" gewachsen sei.
Auf der Tagesordnung der nächsten Bundesregierung stehen komplexe atomare Zukunftsfragen, die vom Großmächtekonflikt zwischen USA, Russland und China überschattet sind. "Alle drei Staaten modernisieren ihre Atomwaffenarsenale."
Den aktuellen atomaren Herausforderungen werde Berlin nicht durch einen Beitritt Deutschlands zum Vertrag über das Atomwaffenverbot gerecht werden können, da ein umfassendes Atomwaffenverbot nicht "zuverlässig" überprüfbar sei, argumentiert der Autor der FAZ.
Die transatlantisch orientierte Tageszeitung fragt anschießend nach der mittel- bis langfristigen Glaubwürdigkeit US-atomarer "Beistandszusagen". Für die beiden großen deutschen Nachbarn Frankreich und Großbritannien sei dies insofern "weniger problematisch", als sie über eine eigene nukleare Abschreckung verfügen. Deutschland sei dieser Weg verbaut, da die Bundesregierung bereits dem nuklearen Nichtverbreitungsvertrag beitrat. Vor diesem Hintergrund müsse sich die nächste Bundesregierung in nuklearen Angelegenheiten den folgenden drei zentralen Aufgaben widmen:
"Erstens: Aufrechterhaltung und Stärkung der transatlantischen Zusammenarbeit, besonders mit Blick auf die nukleare Teilhabe. Zweitens: Intensivierung des Dialogs zu nuklearen Fragen mit Frankreich und weiteren europäischen Partnern. Drittens: Fortsetzung des Engagements für Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung."
Ohne den von den USA bereitgestellten nuklearen Rückhalt wäre es derzeit für Europa kaum möglich, seine Sicherheit im Angesicht dieser russischen Entwicklungen zu gewährleisten. Doch bezweifelt der FAZ-Autor, ob Deutschland und seine europäischen Partner überhaupt "langfristig" auf diesen Rückhalt setzen können, da der Kalte Krieg lange vorbei ist.
Russland sei aus US-Sicht schon lange nicht mehr der zentrale Gegner in einem weltumspannenden Konflikt, sondern eher eine "revisionistische Macht" mit einem gewissen "Störpotential". Daher werde der europäischen Sicherheit in Washington nicht mehr dieselbe Aufmerksamkeit zuteil wie vor 1989. Dieser Trend werde insbesondere dadurch verstärkt, dass China heute der "zentrale US-Herausforderer" sei, nicht Russland.
"Um die transatlantische Bindung stärker und glaubwürdiger zu machen, wurde in den fünfziger Jahren die nukleare Teilhabe erfunden", erklärt der FAZ-Autor und fordert die Bundesregierung, sich auf diese Traditionslinie zu beziehen.
"Deutschland beteiligt sich an ihr gemeinsam mit seinen europäischen Partnern Niederlande, Belgien und Italien. In diesen Staaten sind amerikanische Atomwaffen gelagert, die im Kriegsfall von Flugzeugen der Alliierten ins Ziel gebracht werden sollen. An den regelmäßigen Manövern, in denen der Einsatz dieser Mittel geübt wird, nehmen auch weitere europäische Streitkräfte in Unterstützungsrollen teil, beispielsweise die polnische Luftwaffe. In der Türkei lagern die Amerikaner ebenfalls weiterhin Atomwaffen, die türkische Luftwaffe ist jedoch nicht mehr zu einem Kernwaffeneinsatz befähigt."
Es gehe bei der "nuklearen Teilhabe" letztlich um "Solidarität" in zwei Richtungen: Die USA verknüpften ihre eigene Sicherheit durch die "Vornestationierung" eines kleinen Teils ihrer Atomwaffen mit derjenigen ihrer europäischen Alliierten. Umgekehrt trügen die europäischen Partner die mit der nuklearen Teilhabe einhergehenden Lasten mit, indem sie Flugzeuge und Infrastruktureinrichtungen zur Verfügung stellten, so die FAZ.
In Deutschland regt sich jedoch längst gegen die "nukleare Teilhabe" Widerstand, und viele Aktivisten und Politiker setzten sich eher für atomare Abrüstung ein. "Verfügte die NATO nicht über eine glaubwürdige atomare Abschreckung, zu der die nukleare Teilhabe beiträgt, wäre die Gefahr groß, dass Moskau einen Krieg gegen NATO-Verbündete riskiert, in der Hoffnung, dass die Auseinandersetzung konventionell bliebe und Russland dadurch im Vorteil sei," behauptet der FAZ-Autor, ohne auf Details einzugehen, und seine These mit weiteren Argumenten zu untermauern.
Die FAZ sieht die nukleare Teilhabe für eine "glaubwürdige Abschreckung" als "essenziell". Ein deutscher Ausstieg aus der nuklearen Teilhabe sei nicht nur strategisch "unklug", sondern auch "unsolidarisch" gegenüber allen anderen NATO-Partnern. Sollte Deutschland aber an der nuklearen Teilhabe festhalten, müsse es für diese Aufgabe ein neues Flugzeug beschaffen.
"Die in die Jahre gekommenen Tornados dürften kaum noch in der Lage sein, in den gut geschützten russischen Luftraum einzudringen."
Als Alternative plädiert die FAZ unter Berufung auf Annegret Kramp-Karrenbauer für die Beschaffung von US-F-18-Kampfflugzeugen zur Fortsetzung der nuklearen Teilhabe. Dabei empfiehlt die FAZ zudem der nächsten Bundesregierung, die Möglichkeiten einer engeren nuklearen Zusammenarbeit mit Frankreich auszuloten.
Die französische Atomstreitmacht basiere vornehmlich auf U-Booten. Diese könnten im Zuge deutlicher Verbesserungen der U-Boot-Abwehr künftig sehr viel "verwundbarer" sein. Paris müsse also wieder auf "landgestützte Kernwaffen" zurückgreifen, die Frankreich nach dem Ende des Kalten Krieges ausgemustert hatte, kommentiert die FAZ. Eine Ausweitung des französischen Nukleardispositivs würde aber Kosten verursachen, und deswegen fragt die FAZ, ob Frankreich dazu bereit wäre. Eine Beteiligung europäischer Staaten an der Finanzierung der Force de Frappe werde in Paris skeptisch betrachtet, "führte dies doch zu ungewollten Abhängigkeiten hinsichtlich der eigenen nationalen Sicherheit." Ähnliches gelte dementsprechend für Überlegungen einer Art nuklearer Teilhabe zwischen Frankreich und Deutschland sowie weiteren europäischen Partnern. Dennoch solle Berlin nicht auf die Optionen einer künftig engeren nuklearen Zusammenarbeit mit Frankreich verzichten, empfiehlt die FAZ in ihrem Kommentar.
Laut einer aktuellen Studie der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (Ican) gaben die neun Nuklearwaffenstaaten im vergangenen Jahr 72.6 Milliarden US-Dollar für den Ausbau ihrer Arsenale aus. Die Atommächte sowie die Mitglieder des NATO-Militärbündnisses, zu dem die USA, Großbritannien und Frankreich ebenfalls gehören, lehnen den Atomwaffenverbotsvertrag bislang ab.
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