"Odessa sieben Jahre später: Neonazismus und gewalttätiger Nationalismus als Treiber des Konflikts in der Ukraine" – so lautete das Thema der Sitzung des UN-Sicherheitsrats, die am 5. Mai nach der sogenannten Arria-Formel online stattfand. Eröffnet wurde das Treffen von Wassili Nebensja, dem Ständigen Vertreter der Russischen Föderation bei den Vereinten Nationen. Das Verständnis über die Ursachen der Konflikte sei der Schlüssel für deren Bewältigung, sagte er. Zu verstehen, was in der Ukraine infolge des Putsches im Februar 2014 geschah, sei das Ziel dieser Sitzung.
Er wies auf das Treiben der extremistischen Kräfte in der Ukraine und auf nicht aufgeklärte oder aufgearbeitete Verbrechen hin. "Leider ist die Tragödie von Odessa nur eine der zahlreichen Erscheinungsformen von Neonazismus und gewalttätigem Nationalismus in der Ukraine, die seit 2014 zu einem Schlüsselfaktor bei der Spaltung der ukrainischen Gesellschaft geworden sind."
Dann stellte Wassili Nebensja fünf ukrainische Teilnehmer der Sitzung als Zeugen vor: Den ehemaligen stellvertretenden Leiter der Polizei von Odessa Dmitri Futschedschi, den ehemaligen Abgeordneten des Regionalrats von Odessa Alexei Albu, den Koordinator der ukrainischen linken Vereinigung "Borotba" (Kampf) Sergei Kiritschuk, den politischen Analysten Rostislaw Ischtschenko und die Einwohnerin der Stadt Gorlowka im ostukrainischen Kriegsgebiet Anna Tuw. Letztgenannte hat mittlerweile ihren Mann und ihre Tochter durch Beschuss ihres Wohnorts seitens der ukrainischen Armee verloren und wurde selbst dabei verstümmelt.
Der Polizist Futschedschi konnte sich nach dem Maidan-Umsturz gegenüber den neuen Machthabern nicht länger loyal verhalten und floh kurz nach den tragischen Ereignissen in Odessa nach Transnistrien und später nach Russland. Die ukrainische Staatsanwaltschaft wirft ihm heute die Organisierung der Massenunruhen am 2. Mai 2014 und dienstliche Fahrlässigkeit vor. In seiner Aussage vor UN-Vertretern wies der Ex-Polizist auf den damals erkennbaren, festen politischen Willen der neuen Maidan-Führung hin, das friedliche Zelt-Lager auf dem Kulikowo-Feld vor dem Gewerkschaftshaus in Odessa um jeden Preis zu räumen. Ihm zufolge bot sogar der damalige Präsidentschaftskandidat Petro Poroschenko persönlich Polizisten dafür Geld an. "Das Lager war gesetzeskonform da", betonte Futschedschi und sagte, dass es eine Vereinbarung mit den prorussischen Aktivisten gab, das Lager am 5. Mai 2014 an einen anderen Ort zu verlegen.
Er berichtete, dass das erste Todesopfer an diesem Tag – ein proukrainischer Aktivist – nicht an diesem Ort der Kämpfe zwischen den prorussischen und proukrainischen Demonstranten erschossen worden war. Er persönlich vermutete eine False-Flag Operation, ähnlich wie auf dem Kiewer Maidan während des Umsturzes passiert sein soll. Er sagte auch, dass in der Stadt Odessa seit Anfang April ungefähr 700 teils auswärtige Kämpfer der sogenannten Maidan-Selbstverteidigung untergebracht waren.
Ein Überlebender des Pogroms im und am Gewerkschaftshaus namens Alexei Albu berichtete vom Tod seiner Kameraden und seine eigene Rettung aus dem brennenden Haus. Er sagte, dass es über diese tragischen Ereignisse viele Mythen und klare Lügen gibt:
"Die erste ist, dass der Marsch der Fußball-Fans friedlich war. Dies ist eine Lüge. Die Ultras und Vertreter von Hundertschaften der Maidan-Selbstverteidigung waren mit Schuss- und Stichwaffen ausgerüstet.
Die zweite ist, dass pro-russische Kräfte angeblich die ersten waren, die friedliche Fans angriffen. Auch das ist eine Lüge. Der erste Zusammenstoß fand nicht am Griechischen Platz statt, sondern früher, gegen 14.40 Uhr. Ein unbekannter Mann, der später festgenommen und der Polizei übergeben wurde, eröffnete das Feuer aus einer Luftdruckpistole auf die Aktivisten vom Kulikowo-Feld. Bisher wissen wir nichts über das Schicksal dieses Mannes.
(…)
Viertens: Die Menschen im Gewerkschaftshaus wären durch das Feuer und den Rauch gestorben. Dies ist eine Halbwahrheit. Viele Menschen starben an Stich- und Schnittverletzungen, sie wurden erledigt, als sie aus dem brennenden Gebäude sprangen. So starben meine Freunde Wjatscheslaw Markin, Abgeordneter des Regionalrates, und Andrej Brashewsky, Aktivist unserer Organisation 'Borotba'" (Nach Angaben des ukrainischen Nachrichtenportals strana.ua" starben insgesamt 25 Menschen von 42 eines Brand- oder Erstickungstodes – Anm. der Red.)
Der Auftritt von Anna Tuw, einer kriegsgeschädigten Einwohnerin von Gorlowka, dauerte am längsten. Sie redete langsam, ständig einem Weinkrampf nahe. Bei einem Beschuss ihres Wohnortes in der Ostukraine durch die ukrainische Armee verlor sie selbst eine Hand, ihr Mann und ihre achtjährige Tochter starben. Deren Körper wurden in Stücke zerrissen. Ihr zweijähriger Sohn wurde verstümmelt und ist seitdem schwerbehindert. Sie berichtete über das Grauen des Krieges, die Zerstörung der Schulen, das tagelange Ausharren in Kellern, den Tod ganzer Familien in der Nachbarschaft.
An einem Tag im Juli 2014 wurden Park, Supermarkt und eine Bushaltestelle in ihrer Stadt beschossen – 22 Zivilisten starben. Sie nannte den verantwortlichen ukrainischen Kommandeur beim Namen, merkte jedoch an, die ukrainische Seite verweigere die Erteilung jeglicher Auskünfte über mutmaßliche Kriegsverbrechen.
Immer wieder hielt Tuw auch Bilder der in Donbass getöteten Kinder vor die Kamera, darunter das ihrer Tochter. Heute setzt sie sich für Rechte der Kriegsopfer ein. Ihrer Aussage zufolge kamen allein in der nicht anerkannten Volksrepublik Donezk bisher 4.986 Menschen ums Leben, darunter 91 Kinder, und 370 Kinder seien heute behindert. Es wären 2.600 Klagen beim Internationalen Strafgericht in Den Haag und 4.500 Klagen beim Europäischen Menschenrechtsrat eingereicht worden. "Bis heute folgte keinerlei Reaktion".
"Die Oberste UN-Kommissarin für Menschenrechte wies in ihrem Bericht darauf hin, dass ukrainische Rechtsorgane in den Sachen, die mit dem Konflikt zu tun haben, nicht funktionsfähig seien. Die UN-Beobachter bemerkten klare Verbindungen zwischen den ukrainischen Nationalisten und dem Ukrainischem Sicherheitsdienst SBU. Es wurde Druck vonseiten der Nationalisten auf Richter und Ermittlungsorgane festgestellt."
Nach dem Auftritt von Zeugen des Ukraine-Konflikts ergriffen die offiziellen UNO-Vertreter der an dieser Sitzung teilnehmenden Staaten das Wort. Die Vertreter von sechs NATO-Staaten – Frankreich, Estland, Irland, den USA, Großbritannien und Norwegen – sprachen sich lediglich für die bedingungslose Unterstützung der Ukraine und deren territoriale Souveränität aus. Auf die Themen Nationalismus oder Kriegsverbrechen gingen sie dabei – unbeeindruckt von der Zeugenanhörung – nicht ein. Vertreter der USA, Frankreich, Estlands und Großbritanniens äußerten allerdings zudem noch scharfe Kritik, jedoch an die Russische Föderation gerichtet, weil sie nach deren Meinung die UNO für die Verbreitung falscher Narrative missbrauche.
"Wir unterstützen in keiner Form das Narrativ, das die Organisatoren in ihren Concept Notes skizziert haben", sagte der Vertreter Frankreichs Vadid Bénabou über die Einladung zu dem Treffen. Er merkte an, dass er an der Veranstaltung nur teilnehme, um seine Unterstützung für die Ukraine zu bekräftigen. Der britische Vertreter Ben Roberts empörte sich seinerseits: "Die Russische Föderation versucht absichtlich, zynisch und – wie wir heute sehen – auf tragische Weise, die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft von ihren eigenen destabilisierenden Aktivitäten abzulenken, die seit 2014 gegen in der Ukraine fortdauern."
"Russland missbraucht weiterhin seinen Sitz im Sicherheitsrat, indem es Veranstaltungen zur Ukraine als Teil einer breiteren russischen Desinformationskampagne einberuft", sagte Trina Saha für die Vereinigten Staaten von Amerika. Die Vertreterin von Estland sagte, dass Russland von der Ukraine "besessen" sei und dass die Ukraine die volle Unterstützung der internationalen Gemeinschaft genieße.
Die Vertreter von Mexiko, Indien und China äußerten sich neutral, wobei die mexikanische Diplomatin jegliche Form von Xenophobie und Nationalismus verurteilte. Gleichzeitig bekannte sie sich zur territorialen Integrität der Ukraine. Die Vertreter Syriens und Weißrusslands äußerten ihre Unterstützung der russischen Position, wobei der weißrussische Diplomat auch an die Massenverbrennung von Zivilisten in Weißrussland durch nazistische Besatzer während des Zweiten Krieges erinnerte.
Die als Zeugen eingeladenen ukrainischen Gäste der Konferenz bekamen am Ende noch einmal das Wort und konnten auf das Gesagte teilweise erwidern. Der gegenwärtig im europäischen Exil lebende linke Politiker Sergei Kiriljuk sagte, dass die Politisierung dieser Odessa-Tragödie nur in einer Situation möglich sei, solange das Verbrechen nicht aufgeklärt wurde. Der Exil-Politiker Alexei Albu, ehemals aus Odessa, wies darauf hin, dass die prorussischen Aktivisten in Odessa in ihrer Mehrheit nicht das Ziel hatten, eine Abspaltung der Region von der Ukraine voranzutreiben, sondern eine Föderalisierung der Ukraine. Ihre Methoden waren friedlich, betonte er. Außerdem sei es falsch zu behaupten, dass es nur eine Sicht auf die Ereignisse in der Ukraine gebe, sagte er und wies auf Proteste gegen die NATO-Politik in der Ukraine sogar in den NATO-Staaten selbst hin.
In einem Interview, das er nach der Sitzung der russischen Zeitung Moskowski Komsomolez gab, sagte Albu, dass Vertreter westlicher Staaten ihre Zeugenaussagen eigentlich nicht hören wollten. "Siebenundzwanzig Staaten haben ihre Teilnahme an der Sitzung bestätigt, aber nicht alle haben gesprochen. Die meisten Vertreter der Mitgliedsstaaten des Sicherheitsrates, die gesprochen haben, schienen gar nicht zuzuhören, was wir zu sagen hatten. Vertreter westlicher Länder nutzten ihre Auftritte nur, um Russland zu beschuldigen, den Konflikt in der Ukraine angeblich zu schüren."
"Bei den Ermittlungen zu den Ereignissen in Odessa am 2. Mai (2014) sind keine Fortschritte möglich. Wenn dies die Position des Westens ist, ist es klar, dass auch die Ukraine ihre Position nicht ändern wird", sagte der Sitzungsteilnehmer und ukrainische Politanalyst Rostislaw Ischenko, der ebenfalls jetzt im russischen Exil lebt.
Der stellvertretende russische Vertreter bei der UNO, Dmitri Poljanski, zeigte sich vom Verhalten der westlichen Teilnehmer der Sitzung äußerst enttäuscht. "Das UN-Sicherheitsrats-Treffen nach der Arria-Formel über die Odessa-Tragödie und andere Verbrechen von Nationalisten in der Ukraine hinterließ ein schweres Gefühl, nahe der Übelkeit. Selbst für uns Diplomaten, die an die Doppelmoral und Heuchelei unserer westlichen Kollegen gewöhnt sind, war es nicht einfach, Ruhe zu bewahren", schrieb Poljanski in seinem Telegram-Kanal.
"Als Antwort auf aufrichtige, auf Fakten basierende Berichte über diese abscheulichen Ereignisse, die keinen normalen Menschen gleichgültig lassen können, als Antwort auf persönliche Erinnerungen an das, was damals geschah, hörten wir das gleiche alte westliche Mantra über unsere zerstörerischen Aktionen gegen die Ukraine", so der Diplomat weiter.
"Aber die Wahrheit über die Tragödie in Odessa – über das, was geschah und was im Südosten der Ukraine geschieht – erreicht allmählich die Vereinten Nationen", erklärte Poljanski. "Sie wird zum Teil des öffentlichen Bewusstseins und wird diejenigen erreichen, die verstehen wollen, was vor sich geht. Und das verärgert unsere westlichen Kollegen – das wurde aus ihren Äußerungen klar."
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