Die türkische Regierung hat erklärt, dass sie erwägt, gegen die Vereinigten Staaten Sanktionen einzuführen. Grund dafür ist die Erklärung des US-Präsidenten Joe Biden zum Jahrestag des Völkermordes an den Armeniern, in der er von einem "Genozid" gesprochen – den Ankara verleugnet – und die türkische Stadt Istanbul als "Konstantinopel" bezeichnet hatte. Es ist das erste Mal, dass ein amtierender US-Präsident den Begriff "Genozid" für die Ereignisse im Osmanischen Reich während der Anfangsjahre des Ersten Weltkrieges verwendet. Damals wurden bis zu 1,5 Millionen Armenier getötet.
Laut der oppositionellen Tageszeitung Cumhuriyet ist im Regierungslager sogar im Gespräch, die NATO-Mitgliedschaft der Türkei in Frage zu stellen. Auf der Sitzung des türkischen Kabinetts am Montag soll neben der Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern durch die USA auch die Bezeichnung Istanbuls als "Konstantinopel" thematisiert werden, berichtete die Cumhuriyet unter Berufung auf anonyme Quellen in Regierungskreisen. Diesen zufolge müsse die Türkei der USA "mit demselben Ton antworten".
Türkische Regierungskreise gaben laut der Cumhuriyet an, dass der wahre Hintergrund für die Verwendung des Ausdrucks "Konstantinopel" die Interessen Griechenlands im östlichen Mittelmeer seien. Die USA bezweckten damit, die Türkei einzuschüchtern. Ankara sehe in der Erklärung den Versuch, die Griechen im Zusammenhang mit dem Streit um Zypern und das östliche Mittelmeer gegen die Türkei in Stellung zu bringen, wie es schon zu Zeiten des Türkischen Unabhängigkeitskrieges der Fall gewesen sei.
Zudem bedrohe Washington die Türkei damit, es in Syrien und im Nordirak den kurdischen Kräften der PKK und YPG zu ermöglichen, einen eigenen Staat zu errichten. Beide Gruppen werden von Ankara als Terrororganisationen eingestuft.
Die Regierung erwäge, die NATO-Mitgliedschaft der Türkei in Frage zu stellen. Zudem bestehe die Möglichkeit, sich aus den militärischen Strukturen der NATO zurückzuziehen.
Regierungskreise warfen der NATO vor, seit dem Beitritts Ankaras zur Militärallianz im Jahr 1952 zu versuchen, die Türkei "von allen Seiten anzuketten".
Die Regierung liebäugle auch damit, die Forderung der Opposition aufzugreifen, den Stützpunkt der US-Luftstreitkräfte nahe der türkischen Stadt Incirlik zu schließen oder zumindest die Tätigkeiten der USA dort zu begrenzen.
US-Präsident Biden hatte am Samstag erklärt:
"Wir gedenken all derer, die beim Völkermord an den Armeniern in der osmanischen Zeit ums Leben kamen, und verpflichten uns, zu verhindern, dass eine solche Gräueltat jemals wieder geschieht."
Das US-amerikanische Volk erinnere an alle Armenier, die im Völkermord umkamen, der vor 106 Jahren begonnen hatte. Biden fügte hinzu:
"Wir bekräftigen die Geschichte. Wir tun dies nicht, um Schuld zuzuweisen, sondern um sicherzustellen, dass sich das Geschehene nie wiederholt."
Nur wenige Minuten nach Bidens Erklärung antwortete der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu auf Twitter. Worte könnten die Geschichte nicht ändern oder neu schreiben. Man habe von niemandem über die eigene Geschichte zu lernen. Der politische Opportunismus sei der größte Verrat am Frieden und an der Gerechtigkeit. Ankara lehne Bidens Erklärung, die nur auf Populismus fuße, gänzlich ab.
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