Präsident Joe Biden wird in den kommenden Monaten alle US-Truppen aus Afghanistan abziehen. Der Abzug soll bis zum 20. Jahrestag der Anschläge vom 11. September 2001 ("9/11") beendet sein. Das berichtet die Washington Post unter Berufung auf Personen, die mit den Plänen vertraut sind.
Bidens Entscheidung kennzeichnet eine Neuorientierung in der Sicherheitspolitik. Zusätzlich zu den großen Herausforderungen im Inneren "ist die Realität, dass die Vereinigten Staaten wichtige strategische Interessen in der Welt haben", sagte eine Quelle, "wie Nichtverbreitung von Atomwaffen, wie ein zunehmend aggressives und durchsetzungsfähiges Russland, wie Nordkorea und den Iran, deren Atomprogramme eine Bedrohung für die Vereinigten Staaten darstellen" sowie China. "Die Hauptbedrohungen für das amerikanische Heimatland kommen eigentlich von anderen Orten: aus Afrika, aus Teilen des Nahen Ostens – Syrien und dem Jemen."
"Afghanistan ist im Moment einfach nicht auf der Ebene der anderen Bedrohungen", sagte die Person. "Das bedeutet nicht, dass wir uns von Afghanistan abwenden. Wir werden uns weiterhin für die Regierung engagieren, uns weiterhin diplomatisch engagieren. Aber in Bezug auf die Frage, wo wir unsere Truppenstärke, unser Blut und unsere Ressourcen investieren werden, glauben wir, dass andere Prioritäten diese Investition verdienen."
Abkommen mit Taliban bringen USA in Sackgasse
Trotz der fast 20-jährigen Besatzung Afghanistans hatten es die NATO-Verbände nicht geschafft, die Macht der Taliban zu brechen. Anfang März startete Blinken einen letzten diplomatischen Versuch, die Taliban und die afghanische Regierung an einen Tisch zu bringen, um den Krieg mit einer Übergangsregelung zur Teilung der Macht zu beenden.
Der unter Präsident Donald Trump begonnene Verhandlungsprozess sollte beschleunigt werden. Ursprünglich vermittelte der Gesandte des Weißen Hauses Zalmay Khalilzad Gespräche zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung in Doha, der Hauptstadt von Katar. Unter Mühen kam es im Februar 2020 zu einem von Außenminister Mike Pompeo unterzeichneten Abkommen, in dem sich die USA verpflichteten, ihre Truppen bis zum 1. Mai 2021 abzuziehen, wenn die Taliban im Gegenzug alle Verbindungen zu Al-Qaida abbrechen und sich bereit erklären, Verhandlungen mit der afghanischen Regierung über einen Waffenstillstand und ein Friedensabkommen aufzunehmen.
Die öffentliche Meinung in den USA sowie ein bedeutender, parteiübergreifender Teil des Kongresses sehnen den Abzug herbei, denn ein Verbleib könnte zu politischen Schwierigkeiten im eigenen Land und erneuten Angriffen der Taliban auf die US-Streitkräfte führen. Ein abrupter US-Abzug könnte die Möglichkeit eines Friedensabkommens verringern und zu einer Übernahme durch die Taliban führen.
Doch ein Rückzug aus dem Doha-Abkommen ist nicht mehr möglich. Die Quelle sagt weiter: "Wenn wir die von der vorherigen Regierung ausgehandelte Frist zum 1. Mai ohne einen klaren Plan zum Ausstieg brechen, werden wir uns wieder im Krieg mit den Taliban befinden, und das ist nichts, von dem Präsident Biden glaubte, dass es im nationalen Interesse sei."
Noch ist unklar, wann die NATO-Länder ihre Truppen abziehen werden, aber die Person, die mit den Plänen vertraut ist, deutete an, dass der Abzug mit den USA koordiniert wird. Viele Alliierte haben gesagt, dass sie weder den Wunsch noch die Fähigkeit haben, ohne die logistische und sicherheitspolitische Unterstützung, die die US-Streitkräfte bieten, zu bleiben.
Außenminister Antony Blinken und Verteidigungsminister Lloyd Austin sind am Dienstag und Mittwoch in Brüssel, um ihre NATO-Kollegen zu informieren. Deutschland hat mit mehr als 1.000 Mann die zweitgrößte Truppe in Afghanistan.
Noch im März wollte sich Präsident Biden nicht festlegen, wann die USA Afghanistan verlassen werden. Auf einer Pressekonferenz sagte er Reportern: "Wir bleiben nicht für lange Zeit. Wir werden gehen. Die Frage ist, wann wir gehen." Er fügte hinzu, dass "es schon aus taktischen Gründen schwer sein wird, den Termin 1. Mai einzuhalten". Biden fügte hinzu, er könne sich "nicht vorstellen", dass die US-Truppen nächstes Jahr in Afghanistan bleiben.
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