Im Rahmen der Corona-Krise haben viele Regierungen weltweit Maßnahmen wie die Pflicht zum Tragen einer Maske, Einschränkungen des öffentlichen Lebens, Massentests und "Social Distancing" ergriffen. In vielen Ländern appellierte die Regierung auch an die Bevölkerung, zu Hause zu bleiben. Eine Forschergruppe um Ricardo Francalacci Savaris von der brasilianischen Bundesuniversität Rio Grande do Sul in Porto Alegre hat nun erstmals untersucht, wie effektiv diese "Stay at Home"-Politik war. Das Ergebnis: In nahezu 98 Prozent der untersuchten Fälle konnten sie nicht feststellen, dass der Verbleib zu Hause die COVID-19-Mortalität reduziert hätte.
Um abzuschätzen, inwiefern die Leute den Appellen folgten und auch wirklich zu Hause blieben, nutzen sie die von Google veröffentlichten Mobilitätsdaten in verschiedenen Ländern. Bei Nutzern, die die Standortverlaufseinstellungen auf ihrem Mobiltelefon aktiviert hatten, konnten auf diese Weise anonymisierte dynamische Datensätze auf Länderebene gesammelt werden. Den Wissenschaftlern zufolge liefern diese Daten Informationstrends für Orte wie Supermärkte, Apotheken, Haltestellen des öffentlichen Nahverkehrs und Erholungsorte. Sie spiegeln im Vergleich zu den Datensätzen vor der Corona-Krise reale Änderungen des sozialen Verhaltens wider.
Diese verglichen sie in ihrer Studie, die im Fachjournal Scientific Reports von Nature Research erschien, mit der Anzahl der Personen, die nach Angaben der lokalen Behörden mit oder an COVID-19 verstarben. Savaris zufolge sei dies ein verlässlicherer Parameter als die Zahl der positiv auf Sars-CoV-2 getesteten Personen beziehungsweise der mutmaßlichen Neuinfektionen, die auch von der Viren-Dynamik abhängt und jahreszeitlichen Schwankungen unterliegt. Savaris erklärte diesbezüglich:
"Es ist unklug zu versuchen, eine komplexe und multifaktorielle Erkrankung, mit den ihr innewohnenden ständigen Veränderungen, zu erklären, indem man eine einzige Variable nutzt."
In ihrer Analyse untersuchten sie 87 verschiedene Länder, Regionen und Städte weltweit, darunter 27 brasilianische Bundesstaaten, unterschiedliche Länder auf der ganzen Welt (darunter Deutschland, Schweden, Russland und Südkorea) sowie Städte wie Berlin, Tokio und New York. Kriterium für die Auswahl der Länder waren mehr als 100 Todesfälle im Zusammenhang mit COVID-19 und ein medizinischer Index (Healtcare Access and Quality Index) von mehr als 67, um die Vergleichbarkeit der Kapazitäten im Gesundheitswesen der Länder zu gewährleisten.
Mittels linearer Regression und unter Berücksichtigung der Residuen-Analyse untersuchten die Forscher um Savaris nun, inwiefern zwischen Kalenderwoche 9 und 34 des Jahres 2020 ein Zusammenhang zwischen der Differenz der Mortalität und der Differenz der Mobilität zwischen verschiedenen Ländern bestand. Das Resultat: Von den 3.741 Vergleichspaaren gab es nur 63 Paare beziehungsweise 1,6 Prozent, in denen ein statistisch signifikanter Zusammenhang bestand. Auch bei Länder-Paaren, die zumindest in drei der vier Kategorien Bevölkerungsdichte, Urbanisierungsgrad, Entwicklungsindex (Human Development Index) und Fläche der Region vergleichbar waren, konnte in den meisten Fällen kein statistisch signifikanter Zusammenhang festgestellt werden:
"Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wir mit dieser Methodik und aktuellen Daten in rund 98 Prozent der Vergleiche von 87 verschiedenen Regionen der Welt keinen Hinweis darauf fanden, dass die Zahl der Todesfälle auf eine Million Einwohner durch den Verbleib zu Hause reduziert wird."
Die Forscher weisen jedoch auch darauf hin, dass die in ihrer Studie verwendeten Daten einigen Einschränkungen unterliegen, da es sich nicht um eine randomisierte klinische Studie, sondern eine sogenannte Ökologische Studie handelt. Außerdem repräsentieren die Mobilitätsdaten nicht hundert Prozent der Bevölkerung und werden möglicherweise unterschätzt, denn wenn die Nutzer ihr Smartphone ausgeschaltet zu Hause lassen, werden natürlich auch keine Daten übermittelt. Die Mobilitätsdaten sind den Forschern zufolge dennoch aussagekräftig, da sie bereits in anderen Studien genutzt wurden, um den scheinbaren kurzfristigen Rückgang von mutmaßlichen "Neuinfektionen" durch Lockdowns zu begründen.
In ihrer Arbeit wiesen die Wissenschaftler auch darauf hin, dass es einige Studien gibt, die einen vermeintlichen Rückgang der positiv auf SARS-COV-2 getesteten Personen beziehungsweise der Mortalitätsrate durch Lockdowns belegen sollen. In den entsprechenden Untersuchungen wurden jedoch komplexe epidemiologische Modelle genutzt, deren Grundannahmen Savaris als teilweise unrealistisch bezeichnet:
"Außerdem wurden die Effekte in den Todesraten ohne eine Kontrollgruppe direkt aus den Folgen einer bestimmten Intervention abgeleitet."
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