Die durch den gewaltsamen Tod des schwarzen US-Amerikaners George Floyd ausgelösten Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt sowie Trumps Präsidentschaft und der Sturm auf Kapitol haben die Zerbrechlichkeit der US-Demokratie offenbart, so das US-Journal Foreign Affairs mit den Schwerpunkten US-Außenpolitik und internationale Politik.
In den Augen Russlands und vieler anderer Staaten sei seither die Statur der Vereinigten Staaten geschmälert worden. Nach den letzten Entwicklungen in den USA sei der "Mythos der moralischen Überlegenheit Amerikas" in der Weltpolitik geplatzt. Die jüngsten Entwicklungen in den USA scheinen die Darstellung der Vereinigten Staaten als gespaltene, rassistische und heuchlerische Nation durch den Kreml zu rechtfertigen, kommentiert Foreign Affairs.
"Mit Ausnahme von Trump, der offenbar Putins Zustimmung einholte, hat jeder US-Präsident seit dem Ende des Kalten Krieges moralische Überheblichkeit angewendet, um Moskau zu beeinflussen. Wenn Biden diesen Ansatz wiederbelebt – worauf die Rhetorik aus dem Weißen Haus und einige seiner neuen Ernennungen hindeuten –, werden die amerikanisch-russischen Beziehungen wahrscheinlich den Teufelskreis aus Feindseligkeit und Whataboutism fortsetzen."
Mit Demut und Pragmatismus könne die Biden-Administration immer noch versuchen, "das russische Verhalten zum Besseren" zu beeinflussen. Es wird dabei, so Foreign Affairs, eine Zusammenarbeit mit Verbündeten und die Anerkennung der Grenzen der US-amerikanischen Macht erfordert. Nachdem die USA ihren Anspruch auf moralische Führung aufgaben, wäre es sinnvoll, ihre ideologischen Ambitionen im Ausland zugunsten einer Verbesserung des eigenen Landes zurückzufahren.
Konstantin Kosatschew, Vorsitzender des auswärtigen Ausschusses des russischen Senats, bezeichnete die US-Regierung als abgehoben von der Gesellschaft und der US-amerikanischen Demokratie. Wjatscheslaw Wolodin, Vorsitzender des russischen Parlaments, der Duma, und einflussreicher Architekt der Innenpolitik, erklärte, dass die von den USA auferlegten Standards auf der Grundlage der jüngsten Ereignisse in Washington neu bewertet werden sollten, zitierte Foreign Affairs.
"Das politische System der USA ist nicht nur geschlossen, sondern ist seit etwa 70 Jahren in der Entwicklung eingefroren", schrieb Wolodin. "Zwei Parteien haben ein Machtmonopol, ohne zuzulassen, dass andere politische Kräfte eine Rolle spielen." Er schloss mit einem Aufruf an die Vereinigten Staaten, ihr eigenes Haus in Ordnung zu bringen und "ihre Außenpolitik neu zu organisieren, indem sie sich nicht in die Angelegenheiten anderer souveräner Staaten einmischen", zitierte Foreign Affairs.
Die Autorin von Foreign Affairs kommentiert weiter, selbst die russischen Oppositionellen seien nicht unbedingt proamerikanisch. Nawalny habe die Sperrung des ehemaligen US-Präsidenten auf Twitter angeprangert, und andere Mitglieder der liberalen Opposition Russlands hätten mehrfach die Black-Lives-Matter-Bewegung kritisiert.
Eine vielversprechendere US-Politik gegenüber Russland würde eher auf Interessen als auf Idealen basieren. Seit vielen Jahren laute das Schlagwort unter Diplomaten und Politikern in Moskau "Multipolarität": eine internationale Ordnung, in der es keine einzige Großmacht mehr gibt.
"Der Kreml versucht, sich in einer aufkommenden multipolaren Welt zurechtzufinden, indem er nicht mit ideologischen Verbündeten, sondern mit flüchtigen, pragmatischen Partnern Geschäfte macht. Anstatt nach gemeinsamen Werten zu suchen, sucht Moskau nach gemeinsamen Interessen, sei es im Handel, in der Sicherheit oder sonst wo."
Wenn der Kreml das Gefühl habe, dass die aufkeimende multipolare Ordnung – oder Moskaus regionale Einflusssphäre – bedroht sei, handele er "aggressiv", um zu zeigen, dass Washington nicht mehr die einzige Macht sei, die ihr Gewicht ungestraft herumwerfen könne.
"Doch anders als die Sowjetunion während des Kalten Krieges will Russland die Vereinigten Staaten nicht als politischen oder moralischen Hegemon ablösen. Sie will nur die Vereinigten Staaten auf ihre Größe reduzieren."
Wenn Russland außerhalb seiner Grenzen interveniere, versuche es nicht, der Welt seine Vision aufzuzwingen, sondern seine nationalen Interessen zu fördern, so Foreign Affairs.
Die Autorin schlägt vor, ein besserer Ansatz wäre, wenn Washington ein höheres Maß an Multipolarität annehmen und die öffentliche Kritik an Putin zugunsten der "privaten Diplomatie" zurücknehmen würde. Und die USA sollten versuchen, durch ihre anderen Verbündeten wie Deutschland Einfluss auf Russland zu nehmen, da die Beziehungen Deutschlands zu Russland nicht so angespannt sei wie jenes der USA.
"Die amerikanischen Politiker sollen unrealistische Erwartungen an ihre Fähigkeit aufgeben müssen, Russlands politische Kultur zu ändern, und akzeptieren, dass sich ein echter Wandel allmählich, von innen und in seinem eigenen Tempo kommen wird."
Die zunehmenden politischen Unruhen und schwindender Einfluss mögen die Bilder aus Russland und den USA ähnlich aussehen lassen, so Foreign Affairs. Aber der Unterschied sei, dass Russland sich allein um seine Interessen kümmere, während die Vereinigten Staaten – unter Biden, wenn nicht unter seinem Vorgänger – immer noch glaubten, dass sie auf der Welt Gutes tun könnten.
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