Das transatlantische Militärbündnis will sich neu erfinden. Dabei setzt man auf die Hoffnung einer Wiederbelebung der transatlantischen "Freundschaft und Partnerschaft" nach dem Beginn der US-Präsidentschaft Joe Bidens. Vereint will man nun wieder die Freiheit verteidigen.
Bei einer Videoschalte tauschten sich am Mittwoch dabei erstmals die Verteidigungsminister der 30 Mitgliedsstaaten zu dem Projekt "NATO 2030" aus. Es geht dabei auch um einen ganzen Katalog an "Reformvorschlägen" des NATO-Generalsekretärs Jens Stoltenberg. Zu denen zählt auch der Vorschlag, Maßnahmen zur "Abschreckung und Verteidigung" künftig zumindest teilweise aus der Gemeinschaftskasse zu finanzieren. Außerdem sollen das strategische Konzept der NATO überarbeitet und zusätzliche Konsultationen eingeführt werden, um dadurch die politische Koordinierung zu stärken.
Am Mittwoch erklärte Stoltenberg zu den Konsultationen:
"Es ist kein Geheimnis, dass wir in den vergangenen vier Jahren schwierige Diskussionen in der NATO hatten."
In einem seltenen Gefühlsausbruch habe der Norweger hinzugefügt:
"Ich freue mich wirklich über die Chance, die Allianz wieder neu aufzubauen."
Gemeinsam will man die Zeiten eines mutmaßlichen „Hirntods“ des transatlantischen Militärbündnisses hinter sich lassen. Prompt hieß es demzufolge jedoch aus Bündniskreisen, dass sich Frankreich bereits klar gegen eine weitere Vergemeinschaftung von Einsatzkosten ausgesprochen habe.
Die gesamte Veranstaltung steht dabei im Schatten des im Raum stehenden Abzugs der NATO-Truppen aus Afghanistan. Ende Februar 2020 unterzeichneten der US-Sondergesandte für Aussöhnung in Afghanistan, Zalmay Khalilzad, und der Leiter des politischen Büros der Taliban in Doha, Mullah Abdul Ghani Baradar, in der Hauptstadt des Golfemirats Katar ein Abkommen "über Wege zu einem Frieden".
Die Einigung sah einen vollständigen Truppenabzug bis Mitte 2021 zu. Es war US-Präsident Donald Trump, der den Prozess in Gang gesetzt hatte.
Hierzulande wurden die Doha-Verhandlungen begrüßt. Bundesaußenminister Heiko Maas etwa sprach von einer "lang ersehnten Chance". Freilich nicht ohne den Ball den Taliban zuzuspielen. Es sei an ihnen, nun "die Gewalt zu reduzieren", um das "Hoffnungszeichen" nicht zu gefährden.
"Einen Rückfall in eine totalitäre Alleinherrschaft der Taliban zulasten einer ganzen Generation junger Frauen und Männer darf es nicht geben."
Auf der nun stattfindenden Videokonferenz der NATO steht der Abzug der NATO-Truppen nach 20 Jahren am Donnerstag auf der Tagesordnung und wieder zur Disposition. Generalsekretär Stoltenberg unterstrich auch, dass der Abzug der NATO-Truppen nach 20 Jahren an Bedingungen geknüpft ist. So sei es an den Taliban, die Gewalt im Land zu reduzieren, ihre mutmaßlichen Verbindungen zum Terrornetzwerk Al-Qaida zu beenden und über eine Friedenslösung mit der Regierung in Kabul zu verhandeln.
"Das Versprechen, Afghanistan zu verlassen, ist an Bedingungen geknüpft. Die NATO besteht darauf, dass die Friedensvereinbarung umgesetzt wird."
Derweil gilt der Truppenabzug bis zum 30. April längst als "unrealistisch", da die Taliban aus NATO-Sicht "keine ausreichenden Fortschritte" bei der Reduzierung der Gewalt eingeleitet hätten. Und während sich der neue US-Verteidigungsminister Lloyd Austin noch nicht klar positionieren wollte, wurde die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer schon wesentlich deutlicher. Die Zeit sei noch nicht reif für einen Abzug, so die CDU-Politikerin.
"Wir haben mit dem Einsatz dieser Kräfte über die letzten Jahrzehnte erreicht, dass ein Friedensprozess in Gang gekommen ist. Die Verhandlungen laufen, aber sie sind noch nicht so abgeschlossen, dass die Truppen jetzt Afghanistan verlassen können."
Bereits Anfang Februar warnten die Taliban vor einem Rückzieher vom Doha-Abkommen und dem damit verknüpften Abzug aller ausländischen Truppen bis Ende April.
"Wenn das Doha-Abkommen aufgekündigt wird, wird dies zu einem großen Krieg führen."
Statt auf einen Abzug müsse man sich laut Kramp-Karrenbauer nun mit einer damit verbundenen Eskalation der Gewalt vorbereiten.
"Das bedeutet aber auch eine veränderte Sicherheitssituation, eine erhöhte Bedrohung für die internationalen Kräfte, auch für unsere eigenen Kräfte. Darauf müssen wir uns vorbereiten."
Sollte der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan verlängert werden, sei der Einsatz bewaffneter Drohnen unabdingbar, erklärte CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter am Donnerstag dem Radiosender WDR 5.
"Ohne bewaffnete Drohne ist eine Fortsetzung des Afghanistaneinsatzes sinnlos, weil wir nicht zu viele Kräfte für den Eigenschutz aufbringen können."
Die Bundeswehr stellt derzeit rund 1.100 Soldaten für den NATO-Einsatz "Resolute Support". Das Mandat sieht eine Unterstützung bei Ausbildung und Beratung der afghanischen Sicherheitskräfte vor. Insgesamt sind rund 10.000 Soldaten aus NATO-Ländern und Partnerstaaten in Afghanistan stationiert.
Der NATO-Einsatz in Afghanistan nahm seinen Ursprung am 7. Oktober 2001. An diesem Tag begann eine von den USA geführte Koalition mit einer intensiven Bombenkampagne amerikanischer und britischer Streitkräfte, Angriffe auf das von den Taliban kontrollierte Afghanistan auszuführen. Hintergrund waren die Anschläge vom 11. September 2001. Als Kriegsgrund gaben die USA an, dass die Taliban dem Al-Qaida-Chef Osama bin Laden Unterschlupf gewährt haben und mit dem Terrornetzwerk Al-Qaida verbunden sind.
Logistische Unterstützung kam von anderen Nationen, darunter Frankreich, Deutschland, Australien und Kanada. Später wurden auch Truppen von den Anti-Taliban-Rebellen der Nordallianz bereitgestellt. Die Invasion Afghanistans eröffnete den "Krieg gegen den Terror" der Vereinigten Staaten.
Ein weiteres Thema der aktuellen NATO-Beratungen ist die geplante Ausweitung des "Ausbildungseinsatzes im Irak". Beabsichtigt ist unter anderem, dass NATO-Streitkräfte künftig auch bisherige Aktivitäten der US-geführten "globalen Koalition gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS)" übernehmen. Das könnte dazu führen, dass die Zahl der eingesetzten Soldaten in den nächsten Jahren von aktuell rund 300 auf mehrere Tausend steigt. Ein Kampfeinsatz werde jedoch weiterhin ausgeschlossen.
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