Russland steht vor Showdown mit westlichen Richtern und russischen Oligarchen der 90er-Jahre

Moskau bereitet sich auf einen Rechtsstreit in westlichen Gerichten über eine Rechnung von mehr als 50 Milliarden Dollar (etwa 41 Milliarden Euro) vor, die als der größte historische Vergleich im Zusammenhang mit dem aufgelösten Ölimperium Jukos gilt.

Das Verfassungsgericht, eine der höchsten Justizbehörden Russlands, hat am vergangenen Freitag entschieden, dass Moskau sich weigern darf, die Milliarden Dollar hohe Rechnung an die Oligarchen von Jukos zu begleichen, da die Entscheidung eines internationalen Tribunals in dem langjährigen Streit um den inzwischen aufgelösten Energieriesen nicht mit dem russischen Recht vereinbar ist. Der Fall war von einem Gericht in Den Haag verhandelt worden, das die Zuständigkeit unter den Bedingungen des Energiecharta-Vertrags beansprucht und den ehemaligen Aktionären des Unternehmens Anfang 2020 eine 50-Milliarden-Dollar-Auszahlung von der russischen Regierung zugesprochen hatte.

Da Russland den Vertrag, der internationalen Gerichten Befugnisse überträgt, zwar unterzeichnet, aber nie ratifiziert hatte, stellte das russische Verfassungsgericht nun fest, dass es nicht an die Bestimmungen des Haager Urteils gebunden ist. Das Urteil besagt, dass die damalige Regierung des Landes im Jahr 1994 zwar mit der Unterzeichnung des Vertrages begonnen, aber nicht die Befugnis hatte, nationale Gesetze zu erlassen, die internationalen Abkommen untergeordnet sind, oder die "Kompetenz russischer Gerichte in Frage zu stellen". Daher, so die Juristen, wäre ein Festhalten an den Forderungen des niederländischen Gerichts "verfassungswidrig".

In einem Interview mit der russischen Nachrichtenagentur Interfax sagte Russlands stellvertretender Justizminister Michail Galperin:

"Rechtsgrundlage für die Einreichung der Klage [durch die Jukos-Aktionäre] vor einem internationalen Schiedsgericht war der sogenannte Vertrag über die Energiecharta, den Vertreter der russischen Regierung im Jahr 1994 unterzeichnet hatten. Damals schien es, dass dieser multilaterale Vertrag die Grundlage für die Zusammenarbeit Russlands und anderer postsozialistischer osteuropäischer Länder mit den westlichen Volkswirtschaften legen und notwendige ausländische Investitionen in den russischen Energiesektor anlocken würde. Diese Hoffnungen wurden nicht ganz erfüllt. Im Gegenteil, die Bestimmungen dieses internationalen Abkommens wurden von skrupellosen russischen Geschäftsleuten ausgenutzt, die sich hinter der rechtlichen 'Fassade' ausländischer Offshore-Firmen versteckten und als 'ausländische' Investoren getarnt milliardenschwere Klagen gegen ihr eigenes Land einreichten."

 Galperin erklärte weiter:

"Der Energiecharta-Vertrag hat jedoch nicht das nach russischem Recht und dem Vertrag selbst erforderliche Ratifizierungsverfahren durchlaufen, das heißt, die Genehmigung des internationalen Vertrags durch das russische Parlament. Darüber hinaus lehnte die Staatsduma den Gesetzentwurf über die Ratifizierung dieses Vertrages ab, ohne ihn auch nur einer Lesung unterzogen zu haben – sie verlangte, dass alle Folgen des Beitritts zu diesem Vertrag berechnet werden. So wurde der Vertrag nie vom Parlament ratifiziert und im Jahr 2009 widerrief Russland seine Unterschrift darunter offiziell."

Die Kläger in dem Fall sind Oligarchen, die Geld verloren, als Jukos, einst einer der größten Erdölkonzerne Europas, aufgelöst worden war. Sie behaupten, dass eine milliardenschwere Steuerrechnung und die Verhaftung des Vorstandsvorsitzenden und Gründers, Michail Chodorkowski, wegen Betrugsvorwürfen einer "Enteignung" ihres Vermögens zugunsten des Staates gleichkam. Die russischen Behörden beharren jedoch darauf, dass die Forderungen der Aktionäre nicht als "rechtmäßig" angesehen werden können und dass die niederländischen Richter die Gesetze des Landes gegen Korruption und Betrug übergingen, als sie zu ihren Gunsten entschieden.

Bereits im Juli 2014 ordnete Den Haag an, dass Moskau 50 Milliarden Dollar zur Entschädigung der Kläger zahlen muss. Nachdem sie den Berufungsweg im Februar 2020 Jahres ergebnislos ausgeschöpft hatten, erbaten Russlands Anwälte schließlich vom Obersten Gerichtshof der Niederlande, den Fall zu prüfen und die Entscheidung aufzuheben. Anfang Dezember verlor Moskau jedoch das Angebot, die Vollstreckung von Schadensersatz und Zinsen in Höhe von 57 Milliarden US-Dollar auszusetzen. Die Entscheidung über die endgültige Berufung gegen den Schiedsspruch ist für das kommende Jahr geplant.

In Russland bestand man darauf, dass die Urteile "politisch motiviert" sind. Im Dezember kommentierte der Justizminister des Landes, Konstantin Tschuitschenko, gegenüber Journalisten, der Fall sei Teil eines "juristischen Krieges, der Russland erklärt wurde". Und auch in einem solchen Krieg, so Tschuitschenko, muss "Russland sich angemessen verteidigen und manchmal sogar Gegenangriffe führen".

Galperin sagte:

"Das wichtigste völkerrechtliche Argument ist, dass Russland damals nicht zugestimmt hat, diesen Fall einem internationalen Schiedsverfahren zu übergeben und die Schiedsrichter dementsprechend keine Zuständigkeit hatten, der Klage der Jukos-Aktionäre gegen die Russische Föderation nachzugehen. Die Position, die wir im Jukos-Fall in Bezug auf das Prinzip der Gewaltenteilung eingenommen haben, leitet sich nicht nur aus den grundlegenden Bestimmungen der russischen Verfassung und den Verfassungen anderer europäischer Länder ab, sondern entspricht auch voll und ganz dem Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge und der Europäischen Menschenrechtskonvention. Unsere Interpretation der Anwendung internationaler Investitionskonventionen deckt sich übrigens mit den Positionen von Finnland, Italien, Deutschland und anderen Ländern."

Mit einer Summe von mehr als 50 Milliarden Dollar, was in etwa dem jährlichen Militärbudget Russlands entspricht, gilt der kolossale Vergleich als die größte Entschädigung der Geschichte. Wenn das Land die Zahlung ablehnte, würde dies eine der schwerwiegendsten Sackgassen in der internationalen Rechtsgeschichte auslösen und die westlichen Staaten vor die Entscheidung stellen, ob sie Russlands Verfassungsurteil respektieren oder die Forderungen durch Konfiszierung von Vermögenswerten durchsetzen sollen.

Die ehemaligen Jukos-Aktionäre versuchten bereits, die Regierungen westlicher Länder dazu zu bringen, die Kontrolle über das russische Eigentum in Übersee zu übernehmen, als Versicherungspolice für den Fall, dass Moskau sich weigert, zu zahlen. Im November lehnte jedoch ein US-Richter in der gleichzeitigen Anhörung diesen Antrag ab und sagte, dass "die Russische Föderation ein souveränes Land mit wirtschaftlichen Ranken rund um den Globus ist und kein unsicherer potenzieller Schuldner, von dem verlangt werden muss, Sicherheiten zu stellen, damit es keine Vermögenswerte gibt, die zu einem späteren Zeitpunkt beschlagnahmt werden können".

Doch nicht alle Länder wählten den gleichen Ansatz. So rügten Russlands Diplomaten im Jahr 2015 Frankreich und Belgien dafür, dass sie Staatsgelder in Überseebanken und sogar Gebäude beschlagnahmten, um sie als Sicherheiten im Fall Jukos zu halten. Moskau wies erneut die Autorität des Gerichts zurück und wertete diese Schritte als "einen offen feindlichen Akt". Tim Osborne, ein britischer Anwalt der ehemaligen Jukos-Aktionäre, argumentierte zu jener Zeit mit der Notwendigkeit solcher Beschlagnahmen, weil Russland "keine Rücksicht auf internationales Recht oder die Rechtsstaatlichkeit nimmt".

Galperin wies darauf hin, dass "die Kläger immer noch eine legale Möglichkeit haben, zu versuchen, den Schiedsspruch gegen Russland in einer Reihe von Ländern durchzusetzen. Seit 2014 unternahmen sie skrupellose Versuche, nicht nur Staatseigentum, sondern auch das Vermögen russischer Unternehmen in Westeuropa zu beschlagnahmen." Russland werde weiterhin gegen alle derartigen Versuche rechtlich vorgehen, so Galperin.

Auf seinem Höhepunkt förderte Jukos 20 Prozent des russischen Erdöls und gehörte damit zu den wertvollsten Unternehmen der Welt. Es entstand durch die Privatisierung ehemaliger staatlicher Vermögenswerte nach dem Fall der Sowjetunion. Hierbei erwarb Chodorkowski die Vermögenswerte für einen Bruchteil ihres eigentlichen Wertes bei einer Auktion, die der Wirtschaftswissenschaftler Andrej Illarionow als "den Schwindel des Jahrhunderts" bezeichnete.

Chodorkowski selbst behauptet, dass seine Verhaftung wegen Betrugs und der anschließende Zusammenbruch von Jukos mit seinem politischen Aktivismus und persönlicher Feindseligkeit zwischen ihm und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin verbunden war. Putin hält dem jedoch entgegen, dass der Oligarch, der einst als reichster Mann Russlands galt, ihm gegenüber im Jahr 2013 seine Schuld im Austausch für eine Begnadigung privat eingestanden habe.

Chodorkowski besteht darauf, dass er auf jegliche Ansprüche an sein ehemaliges Imperium verzichtet hat und dass er im Falle eines Vergleichs im Fall Jukos nicht davon profitieren würde. Die russischen Behörden vermuten jedoch, dass eine Reihe von Klägern enge finanzielle Verbindungen zu dem ehemaligen Ölmagnaten haben.

 

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