von Seyed Alireza Mousavi
Mitten in der Corona-Pandemie versuche der Westen – wie schon immer – seinen Profit noch zu maximieren und das Modell der ohnehin in die Krise geratenen unipolaren Weltordnung aufrechtzuerhalten, sagte der russische Außenminister Sergei Lawrow auf einer Videokonferenz des Russischen Rates für internationale Angelegenheiten. Lawrow ging in seiner Rede darauf ein, dass auch die Europäische Union (EU) sich als ein Teil dieser US-amerikanischen Unipolarität betrachtet.
Die EU erhob bislang keinen sonderlichen Anspruch auf ihre Rolle als ein Pol in einem multipolaren System, weil sich dieser Staatenverbund stets im Rahmen der transatlantischen Allianz identifiziert. Der jüngste Stellungnahme der deutschen Bundesverteidigungsministerin Kramp-Karrenbauers zur EU-Außenpolitik macht zudem deutlich, dass die EU unter der Führung Deutschlands weiterhin nicht bereit ist, sich aus der geopolitischen Bevormundung durch die USA zu lösen. Kramp-Karrenbauer sagte kürzlich, Deutschland und "Europa" müssten das Paradox akzeptieren, dass die eigene Sicherheit von den USA abhängig bleibe, auch wenn man mehr tun wolle, um auf eigenen Beinen zu stehen.
In letzter Zeit sind aus Paris hingegen ganz andere Töne zu vernehmen. Frankreich sucht eine strategische Autonomie "Europas" und insofern versucht Macron aus der EU eine geopolitische Kraft zu machen, nämlich einen neuen Pol in der Weltpolitik. Frankreichs Vision für Europas Zukunft wurde insbesondere durch den Brexit und Trumps Aufstieg in den USA noch bestärkt. Macron will im Grunde ein geopolitisches Vakuum ausfüllen, was die USA großteils durch ihren schrittweisen Rückzug aus der Weltpolitik ermöglichten. Frankreich ist bald die einzige Nuklearmacht der Europäischen Union und auch das einzige UNO-Mitglied mit einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Der französische Präsident Macron hat kürzlich auch Pläne für einen neuen atombetriebenen Flugzeugträger vorgestellt und den Status seines Landes aus strategischer Sicht als "Großmacht" vom Nuklearsektor abhängig gemacht. "Die Kernenergie wird der Eckpfeiler unserer strategischen Autonomie bleiben", sagte Macron in diesem Zusammenhang.
Lawrow erklärte in seiner Rede beim russischen Rat für internationale Angelegenheiten, dass der Westen seine Politik mit einem berüchtigten Konzept – und zwar der regelbasierten internationalen Ordnung (rules-based order) – durchzusetzen versucht. Diese von den eigenen, westlichen Interessen ausgehenden Regeln artikulierten sich im Rahmen der Einführung von Sanktionen für mutmaßliche "Menschenrechtsverletzungen", "Chemiewaffeneinsätze" sowie "Cyber-Angriffe". Die Regeln und Sanktionsmechanismen seien in einem engen Kreis der westlichen Mächte ausgehandelt worden, und die EU ebenso wie die USA widmen keine Mühe darauf, sich dabei den internationalen Gremien wie etwa der UNO zuzuwenden, wo weitaus mehr Länder in Entscheidungsverfahren auf globaler Ebene involviert wären. "Die UNO erlebt nun schwere Zeiten, und der Westen tut alles in seiner Macht stehende, um sie zu diskreditieren oder durch die Privatisierung ihrer Sekretariate in die Schranken zu weisen, wie wir im Fall der OPCW sehen", erklärte Lawrow.
Diese vom Westen konzipierte regelbasierte internationale Ordnung widerspricht dem Multilateralismus in der Weltpolitik. Denn das Konzept will die Standpunkte und Initiativen der EU und USA als das einzige richtige Ordnungsmodell der ganzen Welt aufzwingen, dem die anderen Länder folgen müssten. Die Ordnung als solche erwies sich zudem schon mehrfach als fragil. Die USA und EU konnten sich bislang auf die von ihnen ausgehenden internationalen Regelungen und Rechte berufen, waren jedoch auch noch immer durch Pflichten gebunden. Die USA diskreditierten jedoch seinerzeit selbst dieses Ordnungsmodell, als sie 2018 einseitig aus dem Atomabkommen mit Iran oder aus dem UN-Menschenrechtsrat austraten – bei denen auch nicht im Westen angesiedelte Länder dabei waren.
Es ist nun einerseits entscheidend, innerhalb von internationalen Organisationen wie der UNO zu arbeiten, in denen das gesamte Spektrum von Meinungen, manchmal eben auch gegensätzlicher Meinungen, präsent ist, und zum anderen alternative Organisationen wie etwa die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit SOZ oder regionale, umfassende Wirtschaftspartnerschaft (RCEP) in die Entscheidungsverfahren der Weltpolitik zu integrieren.
Lawrow sprach in seiner Rede vom G20-Gipfel als dem einzigen bisherigen Mechanismus außerhalb des UN-Sicherheitsrates, bei dem es noch möglich sei, sich auf der Grundlage eines Interessenausgleichs zu einigen. Die Welt befinde sich in einer Übergangsphase zu einer Multipolaren Weltordnung. Die westlichen Länder ignorieren derzeit dennoch, so Lawrow, objektive globale Entwicklungstendenzen und versuchen, die unipolare Weltordnung wiederherzustellen. Die Strategie der westlichen Mächte beruhe darauf, alle Länder auf der Welt mit allen Mitteln in diese unipolare Weltordnung hineinzuzwängen, außer China und Russland, mit denen man in der nächsten Phase abrechnen wolle, erklärte Lawrow. Es sei unwahrscheinlich, dass Pole wie China und Russland sich dieser westlichen Unipolarität unterwerfen. In diesem Zusammenhang fügte Lawrow hinzu, dass die US-Amerikaner sich nicht scheuen, die bilaterale Partnerschaft zwischen den USA und anderen regionalen Mächten wie Indien als neue Druckmittel gegen China und Russland einzusetzen, um auch damit die Entstehung einer multipolaren Weltordnung zu verhindern.
Der Westen will im Grunde die "universelle Geltung westlicher Werte" überall durchsetzen – notfalls mit Militärinterventionen. Die westliche Außenpolitik, die auf dem quasireligiösen Glauben an die Universalität von "Demokratie" und "Menschenrechten" beruht, büßte jedoch längst ihre Funktion ein, indem sie in den vergangenen Jahren Chaos im Nahen Osten, Afrika und Asien, Osteuropa anstiftete, während die Eskalationsspirale zwischen dem Westen und den aufstrebenden globalen Mächten wie Russland und China sich weitergedreht wurde. Die verschiedenen Weltkulturen und die ihnen angehörenden aufstrebenden Mächte (wie etwa Indien, die Türkei, Iran, Brasilien usw.) sowie Weltmächte (wie Russland und China) definieren sich nicht mehr nach den Regeln der westlichen Wertegesellschaft, die in deren engen Kreisen bestimmt worden waren.
Der Dialog zwischen Russland und dem Westen sieht nun heute skurril aus. Der Westen drängt auf Sanktionen gegen Russland seit dem Putsch in Ukraine 2014 und ist nicht bereit, auf Augenhöhe mit Russland über geopolitische Themen zu verhandeln.
Tatsache ist, dass Russland und der Westen füreinander nicht mehr so wichtig sind. Europa ist seit der Corona-Epidemie und dem Aufstieg der Rechtspopulismus mit sich selbst beschäftigt und für die Vereinigten Staaten stehen die internen Probleme und die Spaltung ihrer Gesellschaft seit den US-Wahlen im Vordergrund. Russland ordnet nun seine Prioritäten neu und fährt schrittweise einen neuen geopolitischen Kurs, wonach es sich gen Osten orientiert und seine Beziehungen zu China und zu aufstrebenden regionalen Mächten wie der Türkei, Iran, Indien und anderen vertiefen will. Die russische Führung ist überzeugt, dass der als universell geltende westliche Wertekanon nicht mehr zu Bewältigung der internationalen Krisen beiträgt. Lawrow stellte in seiner Rede fest, dass die Welt in eine neue Epoche eintritt, in der Unilateralität keine Rolle mehr spielen sollte. Klar ist, dass Moskau die Verhaltensregeln, die man bislang von westlicher Seite für universell hielt, nicht mehr so einfach annimmt, weil die Regeln als solche großenteils in den eigenen engen Kreisen bestimmt und interpretiert wurden und werden.
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