In der Affäre um die mutmaßliche Vergiftung des russischen oppositionellen Bloggers Alexei Nawalny (angeblich mit einem chemischen Kampfstoff der sogenannten Nowitschok-Gruppe) ertönen erneut Forderungen nach Transparenz an Russland – diesmal auf der 25. Jahressitzung der OPCW in Den Haag.
Russlands Vertreter sehen die Schuld am Stillstand der Aufklärung in dieser Sache bei just denjenigen, die derartige Töne spucken, und werfen diesen wiederum schwere Verstöße gegen völkerrechtliche Abkommen vor.
Vom Westen nichts Neues
Zum Auftakt der am 30. November begonnenen Jahrestagung der OPCW-Mitgliedsstaaten gab eine Gruppe von 58 Mitgliedsstaaten bezüglich des mutmaßlichen Giftanschlags auf Nawalny eine Erklärung ab. Darin wird die Interpretation der Geschehnisse bekräftigt, dass der Blogger angeblich mit einem chemischen Kampfstoff der sogenannten Nowitschok-Gruppe vergiftet worden sein soll; außerdem wird Moskau aufgefordert, "die Umstände dieses Chemiewaffenangriffs rasch und auf transparente Weise offenzulegen". Der amtierende Generaldirektor der Organisation, Fernando Arias, erinnerte beim Sitzungsauftakt am Montag, gemäß der Chemiewaffenkonvention sei "die Vergiftung eines Menschen durch den Einsatz eines Nervengifts ein Einsatz einer chemischen Waffe".
Unter den Unterzeichnerstaaten der Erklärung finden sich neben Mitgliedern der Europäischen Union, den USA, Großbritannien, Australien und Kanada noch weitere, wie etwa Georgien und die Ukraine.
Der in dieser Erklärung implizierte Vorwurf, der russische Staat sei in den angeblichen Mordanschlag involviert, wurde aber auch offen ausgesprochen – unter anderem von Großbritanniens Vize-Verteidigungsministerin für Sachen der Verteidigung (sic!), Baroness Annabel Goldie.
"Das Vereinigte Königreich ist der Ansicht, dass es keine andere plausible Erklärung für die Vergiftung von Herrn Nawalny gibt als russische Beteiligung und Verantwortung für diesen entsetzlichen Angriff. Wir fordern die Russische Föderation auf, der OPCW ihr Nowitschok-Programm vollständig offenzulegen."
Westen und BRD den Spiegel vorgehalten
Derartiges Verhalten wertet Russland seinerseits als Taktik der westlichen Partner zum Ziel der Druckausübung. Dies brachte die russische OPCW-Delegation ebenfalls im Vorfeld der 25. Konferenzsitzung der OPCW-Mitgliedsstaaten und ebenfalls in einer Erklärung deutlich zum Ausdruck:
"Wir betrachten die zügellose Kampagne zum Anlass der sogenannten Vergiftung des russischen Bloggers sowie die Schritte, die Deutschland und seine euroatlantischen Verbündeten in dieser Hinsicht auf der Plattform der Organisation für das Verbot von Chemiewaffen unternehmen, als Ausdruck des Wunsches, diese internationale Organisation zu missbrauchen, um politischen Druck und Sanktionsdruck auf Russland auszuüben."
"Anscheinend ist jemand auf die Idee gekommen, den 'Erfolg' Großbritanniens beim Anfachen von Russophobie im Rahmen der sogenannten Sache Skripal zu wiederholen", stichelten die Autoren der russischen Erklärung und betonten weiter:
"Das ursprünglich von Deutschland herbeigesponnene Fake-Narrativ über eine Vergiftung Nawalnys in Russland mit dem exotischen 'Nowitschok' hält keiner Kritik stand."
Verstoß gegen völkerrechtliche Verpflichtungen – nicht durch Russland, sondern durch Deutschland
Das von den westlichen Partnern anschließend an den Tag gelegte Verhalten sprenge jeden Rahmen der Vernunft, wie die zivilisierte Gesellschaft sie auferlegt, kritisierte die Delegation um den russischen Vizeminister für Industrie und Handel Oleg Rjasanzew weiter.
"Statt das Geschehene zu entwirren, beschlossen Deutschland und seine Verbündeten, auf Megafondiplomatie zurückzugreifen – und begannen, irgendeine 'unabhängige internationale Ermittlung' unter der Ägide der OPCW zu fordern."
Allerdings scheine den Verantwortlichen in der BRD-Regierung ohnehin nicht viel am Herausfinden der Wahrheit gelegen zu sein. In der Erklärung wird festgehalten:
"Die deutsche Regierung begann sofort, die russischen Vorermittlungshandlungen zur Situation um Nawalny aktiv zu behindern und verhinderte so bislang die Wahrheitsfindung."
Die Belege für so drastische Vorwürfe bleibt man nicht schuldig:
"Davon zeugen die völlige Weigerung, mit den russischen Strafverfolgungsbehörden und Organisationen des öffentlichen Gesundheitswesens zusammenzuarbeiten, die eklatante Missachtung beziehungsweise die formell-floskelhafte Beantwortung mit Ausredecharakter von bereits fünf Ersuchen der russischen Generalstaatsanwaltschaft, die in Übereinstimmung mit dem Europäischen Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen von 1959 adressiert wurden."
Verpflichtung zu Rechtshilfe – kommt öfter vor, als man denkt
Damit jedoch verstößt Deutschland nicht nur gegen dieses völkerrechtliche Übereinkommen, sondern ausgerechnet gegen das Chemiewaffenübereinkommen selbst – dessen Unterzeichner ebenfalls zu Rechtshilfe und Informationsaustausch verpflichtet sind:
"Damit tritt Berlin unmittelbar die Normen der [Chemiewaffen-]Konvention mit den Füßen. Denn wie sonst kann man den Unwillen Deutschlands qualifizieren, seinen Verpflichtungen gemäß den Artikeln VII und IX der Konvention über das Verbot von Chemiewaffen nachzukommen, die streng vorschreiben, dass Teilnehmerstaaten sich gegenseitig Rechtshilfe zu leisten haben und alle möglichen Maßnahmen zur Aufklärung unklarer Sachverhalte mittels Beratung und Informationsaustausch ergreifen müssen?"
Im Wesentlichen scheint sich seit dem 6. November, als Russlands Auswärtiges Amt eine Stellungnahme (auch in deutscher Sprache) zu den oben umrissenen Sachverhalten veröffentlichte, die dort etwas ausführlicher behandelt werden, nichts geändert zu haben.
"Büroermittlungen" zu Duma durch OPCW-Organ beenden
Ein weiterer Gegenstand der russischen Erklärung, die an Delegationen anderer Länder im Vorfeld der 25. OPCW-Konferenzsitzung verteilt wurde, war die FFM (Fact Finding Mission) – die OPCW-Mission, die spezifisch zur Faktenerhebung zu möglichen Chemiewaffeneinsätzen in Syrien ins Leben gerufen wurde. Hier verlangt Russland, den "Büroermittlungen" ein Ende zu setzen, die die Mission unter vollständigem Verzicht auf jegliche Feldarbeit betreibt:
"Russland wies wiederholt auf die Notwendigkeit einer gründlichen Reform der Fact Finding Mission on the Use of Chemical Weapons in Syrien (CCFM) hin. Wir werden nicht müde, die Forderung zu wiederholen, den 'Bürountersuchungen' ein Ende zu setzen, die ohne Aufsuchen der Vorfallsorte und ohne unabhängige Probenentnahme durch die Inspektoren, unter Missachtung der Maßnahmenabfolge zur Gewährleistung der Sicherheit der Sachbeweise ('chain of custody'), aber dafür gestützt auf parteiische, von Gegnern von Damaskus finanzierte NGOs durchgeführt werden."
Der seinerzeit aufgedeckte, zum Himmel schreiende Fall von Faktenschiebung im Rahmen des Ermittlungsberichts zum Vorfall im syrischen Duma werde für immer ein dunkler Fleck in der Geschichte der OPCW bleiben, mahnte die russische Delegation in ihrer Erklärung:
"Die Aufdeckung der Anpassung des Berichts an die politische Konjunktur – einer Anpassung zur Rechtfertigung der Raketenangriffe, die von Washington, London und Paris ohne jegliche Klärung der Sachverhalte und in Verstoß gegen die UN-Charta gegen Syrien geführt wurden – versetzte dem Renommee der OPCW einen empfindlichen Schlag."