Wir kommen immer wieder zu den Lektionen des Nürnberger Tribunals zurück, wir verstehen ihre Wichtigkeit dafür, um uns für die Wahrheiten des historischen Andenkens einzusetzen, um uns mutwilligen Verfälschungen und Fälschungen der Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs – und insbesondere Versuchen gewissenloser, lügnerischer Rehabilitation und Heroisierung der Nazi-Verbrecher und ihrer Schergen – argumentiert und mit Beweisen an der Hand entgegenzustellen.
Dieses Bekenntnis gab Russlands Präsident Wladimir Putin bei der Eröffnung des internationalen wissenschaftlich-praktischen Forums "Lektionen von Nürnberg" ab. Warum gerade dieser Widerstand gegen Versuche allzu freier Deutung oder gar Umschreibung der Geschichte so wichtig ist und welche Rolle gerade die Nürnberger Prozesse, dafür gab Putin in seiner Ansprache zur Eröffnung des Forums Erklärungen.
Ausgangspunkt des modernen Völkerrechts
Im Laufe der Nürnberger Prozesse beziehungsweise anhand der dabei gefällten Urteile wurden Grundsätze und Normen ausgearbeitet und festgehalten, die auch heute immer dann aktuell werden, wenn die Menschheit Bedrohungen und hochkomplizierten Herausforderungen der modernen Welt entgegensteht. Es ging damals aber gerade auch um das Etablieren solcher Grundsätze und Normen, und nicht bloß um eine Bestrafung führender Nazis, erinnert Russlands Staatschef:
Vor 75 Jahren, ein halbes Jahr nach der vernichtenden Niederstreckung des Nazismus, begann ein Gerichtsprozess, dem alle Welt mit gebannter Aufmerksamkeit beiwohnte. Wohl war das erbarmungslose Regime Hitlers, das einen verbrecherischen Krieg entfesselte, das ungeheuerliche Gräueltaten beging, wie die Geschichte sie noch nicht kannte, vernichtend geschlagen – doch damit konnte man unmöglich bereits den Schlusspunkt setzen. Der triumphale militärische Sieg musste durch die politische, rechtliche und moralische Verurteilung des Nationalsozialismus und seiner todbringenden Ideologie vollendet werden.
Dies war auch deswegen wichtig, weil das Verbrechen Gesichter und Namen hatte – und diese galt es aufzuzeigen:
Hinter dem Massenterror, den Massakern, der Versklavung und der gezielten Vernichtung ganzer Nationen standen ganz bestimmte Organisatoren – die höchste Führung Nazi-Deutschlands. Und die Staaten, die Aggressionen ausgesetzt waren, die Millionen von Menschen, die unmenschliche Zerreißproben, Qual und Leid durchlebt hatten, rechneten zu Recht mit einer Vergeltung, einer unvermeidlichen öffentlichen Bestrafung der Verbrecher.
Sowjetunion und Alliierte – Rechtlichkeit gegen kollektives Aburteilen
Auf die Notwendigkeit eines rechtlich möglichst einwandfreien Prozesses im Namen der Menschheit und der Menschlichkeit machte die Sowjetunion bereits recht früh aufmerksam, während diese den westlichen Alliierten erst gegen Ende des Zweiten Weltkrieges dämmerte:
Gerade auf dieser Position – bezüglich der Einrichtung eines offenen Internationalen Militärgerichtshofs – beharrte die Sowjetunion bereits ab dem Jahr 1942 und behielt sie bei allen Verhandlungen mit den Alliierten grundsätzlich und konsequent bei – bei denen sich bekanntlich zunächst die Idee einer außergerichtlichen, lediglich politischen kollektiven Entscheidung zur Hinrichtung der Nazi-Führer durchsetzte.
Gegen Ende des Krieges erkannten jedoch viele führende Politiker die Notwendigkeit eines Prozesses, und im August 1945 verabschiedeten die Sowjetunion, die USA, Großbritannien und Frankreich ein Abkommen zu dessen Organisation. Dieser Rechtsakt wurde von 19 weiteren Ländern unterstützt. Das Tribunal hat zu Recht den Status eines Gerichtshofs der Völker erworben.
Aus den größten Opfern die richtige Konsequenz
Dass gerade die Sowjetunion, obwohl sie die größten Verluste an Menschenleben und materiellem Gut erlitten hatte, dennoch auf einem richtigen Gerichtsprozess statt einer Aburteilung bestand und diesen auch erwirkte, sollte eine ebenso wichtige Leistung im Namen der Völkergemeinschaft und des weltweiten Friedens nach dem Zweiten Weltkrieg werden wie zuvor die noch im Krieg erbrachte militärische und industrielle Leistung für den Sieg über die unmenschliche Kriegsmaschinerie der Nazis. Denn in Fällen systematischer und systemisch bedingter Gräueltaten muss genauso systematisch ermittelt werden, damit jedem, der sich schuldig macht, Gerechtigkeit widerfährt.
Das sowjetische Volk, das die mächtigsten, brutalsten Schläge des Aggressors über sich ergehen lassen musste und den aufopferungsvollsten Weg zum Sieg ging, hatte seine eigene, die höchste Rechnung zu begleichen – für die Toten auf den Schlachtfeldern, für die Verwundeten und Verstümmelten, für die zerstörten Städte und niedergebrannten Dörfer, für die Massenmorde an Menschen in den besetzten Gebieten.
Diese Gräueltaten an friedlichen Sowjetbürgern waren durch besondere Direktiven der Nazis diktiert, von den Nazis in den Rang staatlicher Politik erhoben. Die Sowjetunion erlitt im Zweiten Weltkrieg kolossale, nicht wieder gutzumachende Verluste, und unter den Millionen Opfern waren vor allem Militärs, die in Gefangenschaft starben, und erbarmungslos, brutal vernichtete Zivilisten.
Die Veröffentlichung von Archivdokumenten, die jetzt in Russland aktiv betrieben wird, und die Arbeit von Suchexpeditionen ermöglichen, bisher unbekannte, aber [davon nicht weniger] schreckliche Ereignisse des vergangenen Krieges, neue Fakten der Massenmorde an Sowjetbürgern – alten Menschen, Frauen, Kindern – durch die Nazis und ihre Komplizen aufzudecken und neu zu begreifen.
Grundlage moderner Völkerrechtsbegriffe und Fundament globaler Sicherheit – und eine immer noch offene Akte des Grauens
Die Lektionen des Nürnberger Prozesses wurden mit einem so hohen Blutzoll bezahlt, dass heute noch, ein Dreivierteljahrhundert nach Kriegsende, Überreste der Opfer der Besatzer in den ehemals von Nazis besetzten Gebieten Schlachtfeldern gefunden werden:
Derartige Verbrechen haben keine Verjährungsfrist. Gerade beim Nürnberger Tribunal wurden sie bewertet, und die von ihm ausgearbeiteten Merkmale von Verbrechen gegen die Menschlichkeit definierten den Begriff des Völkermords selbst – und bildeten die Grundlage für die 1948 verabschiedete UN-Konvention gegen Völkermord.
Die Schlussfolgerungen aus Nürnberg sind auch heute noch aktuell. Vor einem Monat erkannte das russische [Bezirks-]Gericht von Solzy auf der Grundlage jener seiner Entscheidungen zum ersten Mal in der Geschichte der russischen Rechtsprechung die Massenhinrichtungen in der Nähe des Dorfes Schestjanaja Gorka im Gebiet Nowgorod als Akt des Völkermords an. Tausende von friedlichen, unschuldigen Menschen wurden dort auf ungeheuerliche Weise ermordet.
Die Ergebnisse der Nürnberger Prozesse – die der auf ihrer Grundlage aufgebauten Normen und Mechanismen des Völkerrechts – werden jedoch immer dann aufs Spiel gesetzt, wenn der Geschichtsrevisionismus bezogen auf den Zweiten Weltkrieg seine wilden Blüten treiben darf. Dies stellt nichts weniger als Untergrabung der weltweiten Sicherheit dar, mahnte Putin. Die rechtzeitige Entschärfung derartiger ideologischer Sprengladungen ist möglich – aber nur, wenn man sich, wie Russland, auf geschichtliche Tatsachen beruft. Hierfür liefern die Urteile des Nürnberger Prozesses – zumal sie eine Bewertung komplizierter Sachzusammenhänge darstellen – die notwendige argumentative Basis:
Wir wenden uns ständig den Lehren des Nürnberger Tribunals zu, und wir verstehen ihre Bedeutung im Kampf um die Wahrheiten des historischen Gedächtnisses, um argumentativ und mit Beweismaterial an der Hand absichtlicher Verzerrung und Verfälschung der Ereignisse des Zweiten Weltkriegs die Stirn zu bieten – insbesondere schamlosen, lügnerischen Versuchen, Naziverbrecher und ihre Komplizen zu rehabilitieren und sogar zu verherrlichen.
Die Gefahr für die globale Sicherheit, die Revisionismus bezogen auf Urteile des Nürnberger Prozesses ebenso birgt wie eine Aufweichung der darauf gegründeten Völkerrechtsnormen und -werte, betonte Russlands Präsident zum Schluss seiner Ansprache gesondert:
Ich will noch mehr sagen: Es ist die Pflicht der gesamten Weltgemeinschaft, über die Entscheidungen des Gerichtshofs der Völker schützend zu wachen, denn dies sind die Prinzipien, die den Werten der Weltordnung der Nachkriegszeit und den Normen des Völkerrechts zugrunde liegen. Sie bilden auch heute noch eine solide, verlässliche Grundlage für einen konstruktiven Dialog und eine konstruktive Zusammenarbeit – sie in Vergessenheit geraten zu lassen, ebenso wie Versuche, sie zu untergraben, sind ein Schlag gegen die Sicherheit des gesamten Planeten. Deshalb bringt Russland diese Fragen auf allen Verhandlungsplattformen beharrlich zur Sprache.