In einem ausführlichen Interview mit der Zeitschrift Grand Continent skizzierte Macron seine geopolitischen Vorstellungen in Bezug auf Frankreich und Europa. In diesem Zusammenhang kritisierte der französische Präsident den UN-Sicherheitsrat. "Ich muss feststellen, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen derzeit keine brauchbaren Entscheidungen mehr produziert [...]", so Macron in Grand Continent.
Deswegen sei es wichtig, eine Stärkung und Strukturierung eines politischen Europas hinzubekommen. Er wolle, dass eine Zusammenarbeit entsteht, die mit ausgewogenen Zentren um einen neuen Multilateralismus herum zu strukturieren sei. Es brauche einen Dialog zwischen den verschiedenen Mächten, um gemeinsam zu entscheiden.
Der 42-Jährige hatte bereits Ende vergangenen Jahres der mächtigen Militärallianz NATO den "Hirntod" bescheinigt und damit monatelange Debatten ausgelöst. Die Atommacht Frankreich gehört mit den USA, China, Russland und Großbritannien zu den ständigen Mitgliedern im UN-Sicherheitsrat. Sie können mit einem Veto jeden Beschluss verhindern.
Mit Blick auf Europa bekräftigte Macron seine Linie, dass der Kontinent deutlich eigenständiger werden müsse. Die USA würden die Europäer nur als Verbündete akzeptieren, "wenn wir uns selber ernst nehmen, und wenn wir in unserer eigenen Verteidigung souverän sind". Im Wortlaut sagte Macron:
Aber die Vereinigten Staaten werden uns nur dann als Verbündete respektieren, wenn wir es mit uns selbst ernst meinen und wenn wir bei unserer eigenen Verteidigung souverän sind. Daher denke ich, dass der Wechsel in der amerikanischen Regierung im Gegenteil eine Gelegenheit ist, in einer völlig friedlichen, ruhigen Art und Weise fortzufahren, was die Verbündeten untereinander verstehen müssen: Wir müssen weiterhin unsere Autonomie für uns selbst aufbauen, wie es die Vereinigten Staaten für sich tun, wie es China für sich tut.
Damit stellte er sich explizit gegen Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, die in einem Meinungsbeitrag für die Zeitschrift Politico unter dem Titel "Europa braucht die USA weiterhin" eine Fortführung der engen Zusammenarbeit mit den USA gefordert hatte. Macron geht in seinem Interview auf den Meinungsbeitrag von Kramp-Karrenbauer ein:
Die Frage, wenn wir direkt sind, ist folgende: Wird der Wechsel in der amerikanischen Regierung zu einer Lockerung unter den Europäern führen? Ich bin zum Beispiel mit dem von der deutschen Verteidigungsministerin unterzeichneten Meinungsartikel in 'Politico' überhaupt nicht einverstanden. Ich halte das für eine Fehlinterpretation der Geschichte. Glücklicherweise ist die Kanzlerin nicht auf dieser Linie, wenn ich die Dinge richtig verstanden habe.
Man habe sich zu sehr daran gewöhnt, die Welt durch eine Art NATO-Brille zu sehen. In Europa würden sehr viele Themen ausgeblendet, bemängelte der Staatschef:
Um es klar zu sagen: Im geostrategischen Bereich haben wir uns das Nachdenken abgewöhnt, da wir unsere geopolitischen Beziehungen stets nur mittels der NATO definiert haben – Frankreich historisch bedingt weniger als andere [...].
Auch das EU-Parlament in seiner jetzigen Form wurde von Macron angezählt. Der Präsident sagt in dem Interview:
Können wir so weit gehen und über die europäische Souveränität sprechen, wie ich es selbst getan habe? Ich gebe zu, dass dieser Begriff ein wenig übertrieben ist, denn wenn es eine europäische Souveränität gäbe, gäbe es eine vollständig etablierte europäische politische Macht. So weit sind wir noch nicht. Es gibt ein Europäisches Parlament, das immer noch die Vertretung der europäischen Bürger verteidigt, aber ich halte diese Formen der Vertretung nicht für völlig zufriedenstellend.
Macron wird laut Élyséekreisen am Mittag US-Außenminister Mike Pompeo empfangen. Der Chefdiplomat aus Washington beginnt eine Reise durch Europa und den Nahen Osten. In Paris wird die Visite als potenziell heikel gesehen: Pompeo hatte in der vergangenen Woche die Wahlniederlage von Präsident Donald Trump gegen seinen demokratischen Herausforderer Joe Biden nicht eingestanden. Macron beglückwünschte hingegen Biden und telefonierte mit dem 77-Jährigen, wie Élyséekreise berichteten.
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