Ein Lehrstück für Doppelstandards nach der Art "Erst alle anderen – dann aber wir nicht" legte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg auf der diesjährigen Massenvernichtungskonferenz dieses Bündnisses in Rumänien hin. Die internationale Gemeinschaft müsse ihre Bemühungen um die Abschaffung von Atomwaffen in der Welt verstärken, äußerte er:
Unser letztendliches Ziel ist eine atomwaffenfreie Welt.
Der UN-Nichtverbreitungsvertrag sei beste Grundlage, um diesbezüglichen Fortschritt voranzutreiben. Dieser Vertrag, der 1970 in Kraft trat, sollte die Verbreitung nuklearer Waffentechnologien durch deren Übertragung von Atommächten auf nicht-nukleare Staaten verhindern und legt seinerseits eine vollständige nuklearen Abrüstung als das letztendliche Ziel fest.
Für eine allerdings deutlich schlechtere Idee hielt es Stoltenberg offenbar, die NATO-Staaten in diesem edlen Bestreben mit gutem Beispiel vorangehen zu lassen und als die Ersten im Namen des Friedens auf ihr jeweiliges Kernwaffenarsenal zu verzichten. Der Generalsekretär hielt fest, dass Kernwaffen eine "entscheidende Rolle" bei der Gewährleistung der internationalen Sicherheit spielen würden. Jede nukleare Abrüstung sollte nur in einer – wie er es nannte – ausgewogenen, auf Gegenseitigkeit beruhenden und überprüfbaren Weise erfolgen sollte.
Unsere Abschreckungskapazität ohne Garantien, dass die Anderen dasselbe tun, aufzugeben, ist eine gefährliche Option. Eine Welt, in der Russland, China, Nordkorea und andere über Atomwaffen verfügen, die NATO jedoch nicht, ist keine sicherere Welt.
Mit fremden Federn geschmückt
Dennoch prahlte Stoltenberg mit dem angeblichen Erfolg der NATO auf dem Weg zu einer atomwaffenfreien Welt. "Gemeinsam haben wir die Zahl der Atomwaffen in Europa in den letzten 30 Jahren um mehr als 90 Prozent reduziert", erklärte er vollmundig.
Was dem Generalsekretär allem Anschein nach entfallen war: Diese Leistung war keineswegs das Ergebnis irgendwelcher interner Entscheidungen in der NATO, sondern vielmehr das ausschließliche Ergebnis einer Reihe von Verträgen zwischen den USA und der UdSSR und später Russland.
Auf der Liste dieser Verträge steht auch der INF-Vertrag (Intermediate-Range Nuclear Forces) von 1987, der den beiden Staaten den Besitz und die Entwicklung bodengestützter nuklearer Kurz- und Mittelstreckenraketen vollständig untersagte. Ein weiteres Abkommen war der START-Vertrag von 1991, der die Zahl der nuklearen Sprengköpfe, die jede Seite haben durfte, auf 6.000 und die Zahl der nuklearen Trägersysteme wie ballistische Raketen oder schwere Bomber und U-Boote auf 1.600 begrenzte.
Der New START-Vertrag von 2010 beschränkte diese Zahl weiter auf 1.550 nukleare Sprengköpfe und 800 Trägerraketen, von denen nur 700 von jeder Seite in Bereitschaft gehalten werden durften. Nun fordert Stoltenberg Moskau und Washington auf, "weiterhin ihre führende Rolle bei der Rüstungskontrolle zu spielen" und insbesondere den New START-Vertrag, der im Februar 2021 auslaufen wird, zu verlängern.
Der Generalsekretär erwähnte jedoch nicht, dass es mit den USA ausgerechnet ein NATO-Mitglied ist, das bisher genau das verweigert hat: Mitte Oktober wies Washington den Vorschlag des russischen Präsidenten Wladimir Putin zurück, den Vertrag ohne Vorbedingungen um ein Jahr zu verlängern und die Einzelheiten für eine spätere Verlängerung auszuarbeiten – weil angeblich ein "Rohrkrepierer". Weniger als zwei Wochen später drohten die USA Russland und China mit (noch nicht existierenden) Hyperschallraketen.
Stoltenberg erwähnte ferner auch nicht, dass es die USA waren, die 2019 einseitig aus dem INF-Vertrag austraten und damit Europa an den Rand eines möglichen nuklearen Wettrüstens brachten. Auch dass Washington bereits weniger als einen Monat nach dem offiziellen USA-Austritt aus dem INF-Vertrag einen Test mit einer Rakete durchführen konnte und durchführte, die bis dahin vom INF-Vertrag verboten worden war, ließ der Generalsekretär des Bündnisses unerwähnt.
Stattdessen folgte Stoltenberg der US-amerikanischen Darstellung, der zufolge es China sei, das eine "Verantwortung" für die Aufnahme von Rüstungskontrollverhandlungen habe – eine solche Beteiligung fordert das offizielle Washington von China seit langem.