Der 11. September – ein historisches Datum. Und das nicht allein aufgrund jener Ereignisse an diesem Tag im Jahr 2001 in den USA, die als Anlass für den verheerenden sogenannten "Krieg gegen den Terror" dienten, der in alle entlegenen Winkel der Welt gebracht wurde und der somit rund 3 Millionen Menschen das Leben gekostet und mindesten 37 Millionen Flüchtlinge hervorbrachte.
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Sondern auch für die Chilenen ein unvergessliches Grauen, weil deren eigene Geschichte niedergewalzt wurde durch skrupellose Putschisten, angespornt und finanziert durch die USA, vorbereitet durch falsche Propagandisten und Attentäter bis hin zum letztendlich höchst brutalen Militärputsch. Was Washington unter Nixon die US-Steuerzahler Millionen Dollar hat kosten lassen, bedeutete für die Chilenen den schändlichsten Bruch ihrer demokratischen Geschichte, der an diesem 11. September 1973 vollzogen wurde.
Die Chilenen waren – wie auch andere Völker des lateinamerikanischen, afrikanischen und asiatischen Kontinents – noch immer der Hoffnung, die eigene Zukunft souverän mitbestimmen zu können. So tanzten viele Chilenen vor knapp 50 Jahren in den Straßen des Landes, nachdem in freien Wahlen Salvador Allende - Arzt, Vater von drei Töchtern und erklärter Marxist - zum Präsidenten gewählt worden war.
Während linke Gruppierungen in anderen Ländern aufgrund der harten Realitäten des Kalten Krieges als Guerilleros in den bewaffneten, asymmetrischen Widerstand gingen, machte sich in Chile der vom Volk gewählte sozialistische Präsident Allende mit der Unidad Popular, das erste breite Linksbündnis, das in Lateinamerika über die Wahlurnen die Regierungsgewalt errang, an die Umsetzung eines "chilenischen" und demokratischen Weges zum Sozialismus (La vía chilena al socialismo ).
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Menschenrechte, Armutsbekämpfung, Minderheitenstärkung
Die neue Regierung verfolgte damit eine Reihe umfassender sozialer und wirtschaftlicher Reformen. In der Wirtschaft waren es vor allem die Abhängigkeit von anderen Ländern – unter anderem durch deren Besitz signifikanter Anteile in bedeutenden Industrien wie dem Kupferbergbau, aber auch durch Vorgabe der Konsummuster - sowie monopolistische, oligarchische und kapitalistische Charakteristika, welche es zu korrigieren galt. Mit der Regierung Allende begann eine Umverteilung und die Renationalisierung verschiedener Industrien wie den Kupferminen und dem Telekommunikationssektor, der ebenfalls großteils in US-amerikanischem Besitz war, oder auch dem Bankensektor.
Von den weitreichenden sozialen Reformen profitierten sowohl die Arbeiter, welche höhere Mindestlöhne und verbesserte Sozialversicherungen genossen, als auch die Mittelschicht durch Abschaffung der Steuern auf Einkommen und auf Vermögen. Gleich im ersten Jahr nach der Wahl wurden die realen Mindestlöhne für Arbeiter um ganze 56 Prozent angehoben, ebenso die realen Mindestlöhne für Angestellte um 23 Prozent. Die Bedürftigsten des Landes, darunter auch Schulkinder, erhielten kostenlose Nahrungsmittel durch staatlich geförderte Programme. Außerdem wurde die Auszahlung von Renten und Zuschüssen wieder auf- und weitere soziale Maßnahmen in Angriff genommen. Zwischen Oktober 1970 und Juli 1971 stieg die Kaufkraft der Chilenen um 28 Prozent.
Im ersten Jahr der Allende-Regierung stieg auch das Bruttoinlandsprodukt um 8,6 Prozent, während die Inflation von 34,9 Prozent auf 22,1 Prozent zurückging und die Arbeitslosigkeit sank. Zudem investierte sie in Wohnungsbau und setzte Schwerpunkte für Bildung, Gesundheit und Kultur, insbesondere an der Basis der Gesellschaft. So wurde beispielsweise die Einrichtung von Bibliotheken in Gewerkschaften gefördert oder Bauern und Arbeitern ein Studium ermöglicht. Der Anteil von Analphabeten ging von 12 Prozent im Jahr 1970 auf 10,8 Prozent im Jahr 1972 zurück, und die Einschulungsraten wie auch die Zahlen in der Sekundarschulbildung stiegen stark an. Ebenso wurde die soziale und wirtschaftliche Situation der Frauen verbessert und die Demokratisierung ausgeweitet, indem Bauernräte für die Teilhabe von Landarbeiter und Kleinbauern eingerichtet wurden. Auch die stark entrechtete Minderheit der indigenen Mapuche-Bevölkerung profitierte unter anderem durch Stipendien zur Integration in das Bildungssystem.
Während diese Errungenschaften und Prioritäten heute beinahe klingen, als entstammten sie den UN-Nachhaltigkeitszielen oder als seien sie gar von den USAID-Programmautoren kopiert worden, standen sie damals unter heftigem Beschuss aus Washington. Zwar verschlechterten sich auch einige wirtschaftliche Parameter im zweiten Jahr nach Allendes Regierungsantritt wieder, so stieg Inflation und negatives Wachstum setzte ein. Einnahmen aus dem Kupfersektor, Chiles wichtigstem Exportgut, gingen stark zurück, nachdem der Kupferpreis von 66 Dollar pro Tonne im Jahr 1970 in den Folgejahren auf nur noch rund 48 Dollar an den internationalen Rohstoffbörsen gedrückt wurde. Arbeiterstreiks in bestimmten Sektoren der Wirtschaft sowie andere gegnerische Kräfte der Allende-Regierung wurden von den USA unterstützt.
Denn Chile hatte es auch noch gewagt, diplomatische Beziehungen zu Kuba wieder herzustellen – obwohl das die von Washington dominierte OAS "verboten" hatte – und Beziehungen zur UDSSR sowie zu China aufzunehmen und außerdem das Land in der Blockfreien Bewegung zu registrieren, was auch Teile der chilenischen Streitkräfte nicht guthießen. Chile war Empfänger von US-Militärhilfen sogar zur Zeit der Allende-Regierung, als einen Monat nach Allendes Amtsantritt René Schneider, der befehlshabende General der Armee, dessen Ansicht es war, dass die Streitkräfte sich treu der Verfassung nicht in die Politik einzumischen sondern die Souveränität des Lands zu schützen haben, ermordet wurde.
Zum Ärgernis konservativer Kräfte in und außerhalb Chiles trug weiterhin bei, dass ausgerechnet Fidel Castro sich bei seinem Besuch in Chile so wohl fühlte, dass er statt einer Woche gleich einen ganzen Monat blieb.
Die von Allende geplanten wirtschaftlichen Gegenmaßnahmen, wie eine Aussetzung der Schuldenrückzahlungen gegenüber internationalen Gläubigern – die US-Regierung Nixon, wie auch andere ausländische Regierungen übten direkt und über multinationale Organisationen starken wirtschaftlichen Druck auf Chile aus – sowie das Einfrieren von Preisen riefen eine Reihe von Landbesitzern und Unternehmern auf den Plan. Die rechte Opposition tat sich zusammen und konnte auf Unterstützung aus den USA zählen.
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Sturz der gewählten Regierung als klares Ziel
Denn US-Präsident Nixon hat bereits zu Beginn seiner Amtszeit alles daran gesetzt, die Allende-Regierung zu Fall zu bringen, unter Einsatz der CIA und einer explizit harten, wirtschaftlichen Linie. Bereits vor der Wahl der Chilenen im Jahr 1970 hatte Nixon rund 10 Millionen US-Dollar "investiert", um Allende möglichst erst gar nicht an die Macht gelangen zu lassen. Als das chilenische Volk seinen Willen durchgesetzt hatte, war es unumstößliche US-Politik, die Allende-Regierung zu stürzen, wie die Archive der US-Regierung später offenlegten. Dieses Ziel wurde letztendlich am 11. September 1973 militärisch durchgesetzt. Nachdem Allende am frühen Morgen über Truppenbewegungen in der Stadt informiert worden war, begab er sich zu seinem Amtssitz als Präsident, zur La Moneda, und richtete sich mit einer aufrüttelnden Rundfunkansprache an sein Volk. Er betonte die enttäuschte Hoffnung in die Verfassungstreue der Streitkräfte, die geschworen hatten, die gewählte Regierung zu verteidigen und beteuerte, dass nicht von seinem Amt zurücktreten werde. Noch vor Mittag wurde das Hauptquartier des Präsidenten bombardiert.
Mit diesem erfolgreichen Staatsstreich begann die blutige Militär-Diktatur von General Augusto Pinochet, die 17 Jahre dauerte, weil es nach dessen Willen "weder zu meinen Lebzeiten noch zu Lebzeiten meines Nachfolgers Wahlen in Chile geben wird." Eine Schreckensherrschaft, in der nicht nur die bürgerlichen und politischen Rechte der Bevölkerung samt Medienzensur und Bücherverbrennung stark beschnitten wurden, sondern die von Verfolgung, Folter, Hinrichtungen, und Exil geprägt war und bis in die Gegenwart tiefe Spuren hinterlassen hat. Nach Angaben von Menschenrechtskommissionen wurden mehr als 3.200 Menschen vom Regime Pinochet ermordet oder blieben spurlos verschwunden, während rund 38.000 Menschen gefoltert wurden.
Chile wurde unter Pinochet außerdem zu einem Experimentierfeld für knallharte neoliberale Wirtschaftspolitik, unter den sogenannten "Chicago Boys", chilenischen Wirtschaftswissenschaftlern, die in den USA bei Ökonomen wie Milton Friedman gelernt hatten und daraufhin im eigenen Land eine Privatisierung und Austeritätspolitik mit den bekannten Folgen starker sozioökonomischer Ungleichheit durchsetzten, welche bis heute nachwirken und nach Ansicht chilenischer Beobachter – neben der von Pinochet durchgesetzten Verfassungsänderung – auch die Proteste im vergangenen Jahr motivieren. In diesem Jahr durchläuft Chile einen Prozess zur Änderung dieser Verfassung, um endlich dieses Vermächtnis der Militärdiktatur hinter sich zu lassen.
Der aktuelle US-Präsident Donald Trump hat einmal von "Drecksloch-Ländern" gesprochen, womit er sich zwar vorrangig auf Afrikanische Länder bezog, aus denen er keine Migranten neben all den lateinamerikanischen Einwanderern aufnehmen wollte. Doch hat die US-Politik, zumal im Kalten Krieg, nicht nur in Chile Geschichte geschrieben, so dass ein kritischer Blick auf die Rolle des eigenen Landes für Chaos, Armut und Ungleichheit in der Welt sicherlich angebracht wäre, auch an 9/11.
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