Das Costs of War Project des Watson-Instituts für internationale und öffentliche Angelegenheiten an der renommierten Brown University in Providence im US-Bundesstaat Rhode Island ging in seiner neuesten Untersuchung der Frage nach, wie viele Menschen seit den Anschlägen vom 11. September 2001 durch die von den USA begonnenen Kriege zu Flüchtlingen wurden. Dabei haben sich die Wissenschaftler auf die acht blutigsten Kriege in Afghanisten, dem Irak, dem Jemen, Libyen, Pakistan, den Philippinen, Somalia und Syrien konzentriert.
Nach ihren Berechnungen wurden in diesen Ländern mindestens 37 Millionen Menschen zu Flüchtlingen gemacht. Wie der Hauptverfasser der Studie, Professor David Vine von der American University in Washington D.C., festhält, ist diese Zahl eher am unteren Ende angesetzt. Realistischer wären 48 bis 59 Millionen Flüchtlinge, die ihre Heimat aufgrund der US-geführten Kriege verloren haben. Dabei seien die kleineren Konfliktherde noch gar nicht mitgerechnet, an denen sich US-Spezialeinheiten insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent und Asien beteiligen, die ebenfalls Auswirkungen auf die Sicherheit der Bevölkerung haben, wie es in der Studie weiter heißt.
Millionen (Menschen) sind vor Luftangriffen, Bombardierungen, Artilleriefeuer, Hausdurchsuchungen, Drohnenangriffen, Gefechten und Vergewaltigungen geflohen. Die Menschen flohen vor der Zerstörung ihrer Häuser, Nachbarschaften, Krankenhäuser, Schulen, Jobs und lokaler Nahrungs- und Wasserquellen. Sie flohen vor Vertreibung, Morddrohungen und groß angelegten ethnischen Säuberungen, die durch die US-Kriege insbesondere in Afghanistan und dem Irak ausgelöst wurden.
Die alleinige Verantwortung für diese Entwicklung liege aber nicht bei der US-Regierung. Die Taliban in Afghanistan, sunnitische und schiitische Milizen im Irak, Al-Qaida, der sogenannte Islamische Staat und andere Staaten, Dschihadisten und Kämpfer sind ebenso für die Fluchtursachen verantwortlich. In diesen acht Ländern waren es aber die USA, die die bereits vorhandenen Faktoren wie Armut, Auswirkungen des Klimawandels und existierende Gewalt durch den Einmarsch, Drohnenkrieg oder als Hauptpartner einer kriegsführenden Partei massiv verschärft haben.
Seit 2001 sind die USA in mindestens 24 Ländern militärisch aktiv gewesen bzw. sind es in vielen nach wie vor. Welche Auswirkungen das auf die jeweilige Bevölkerung hatte, sei den meisten Menschen in den USA überhaupt nicht bewusst gewesen, sagte Professor Vine der New York Times:
Es sagt uns, dass die US-Beteiligung in diesen Ländern schrecklich katastrophal, schrecklich schädlich war, was den meisten Menschen in den Vereinigten Staaten – in vielerlei Hinsicht einschließlich meiner selbst – nicht im Geringsten bewusst war.
Die durch US-Beteiligung ausgelösten Flüchtlingsströme seit 2001 sind gewaltiger als jene während des Ersten Weltkrieges, der Teilung des indischen Subkontinents und des Vietnamkrieges zusammengenommen. Man bewege sich auf dem Niveau des Zweiten Weltkrieges, in dem Schätzungen zufolge bis zu 60 Millionen Menschen ihr Zuhause verloren haben.
Während sich die Studie hauptsächlich auf die Beteiligung der USA an diesen Kriegen konzentrierte, bleiben europäische Länder unerwähnt, die ebenso ihren Teil zur Vertreibung der Menschen aus ihrer Heimat beigetragen haben. Dazu zählen insbesondere Großbritannien und Frankreich, die militärisch in den selben Konfliktgebieten aktiv sind. Und wenn es nach den Vorstellungen von Entwicklungsstaatssekretär Martin Jäger (CDU) geht, dann soll sich auch Deutschland an derartigen militärischen Operationen beteiligen. Schließlich müsse in der "näheren und weiteren Nachbarschaft Europas Ordnung herrschen", wie er in einem Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schrieb.
Die Folgen einer solchen Politik, die dadurch ausgelösten Flüchtlings- und Migrationsströme, hat Deutschland bereits 2015 zu spüren bekommen, als eine knappe Million Menschen ungehindert über die Grenzen Südosteuropas nach Zentraleuropa kam. Und noch immer ist der Druck an den EU-Außengrenzen durch Migranten groß, die versuchen, in die EU-Länder zu gelangen. Es ist angesichts der Entwicklung seit 2001 nur schwer vorstellbar, wie sich an dieser Situation etwas ändern würde, wenn sich Deutschland wie die USA, Großbritannien oder Frankreich an militärischen Kampfeinsätzen in Krisenregionen beteiligt.
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